#republicofhope
Unglaubliche Dinge geschehen. Kriegsflüchtlinge werden auf dem Budapester Ostbahnhof von der Polizei in Schach gehalten. Die Menschen wollen nach Deutschland, dürfen aber nicht. Einige von ihnen werden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in einen Zug gelockt, der dann mitten im Nirgendwo hält. Sie sollen in ein unzulängliches Lager gebracht werden & weigern sich. Die Polizei hindert die Berichterstatter, ihrer Arbeit nachzugehen. Am Ende geben die Flüchtlinge auf. Doch da haben sich in Budapest schon viele Hundert zu Fuß auf den Weg gemacht. Auf der Autobahn. Das Ziel ist Österreich.
In Wien bereitet sich zu der Zeit FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache auf seinen Wahlkampfauftritt in Wien-Favoriten vor. Viktor-Adler-Markt. Dort wird Strache wenige Stunden später wieder gegen Rot, Grün und Schwarz wettern. Man kennt das. Und er wird am meisten Applaus kriegen, wenn es dann wieder gegen die Ausländer geht. Ein paar arme Flüchtlinge sind auch darunter, ja eh. Aber die meisten kommen nur zu uns, um sich ins gemachte Nest zu setzen. Gut zehntausend User verfolgen den Event via Livestream und Facebook, das ist Straches Welt, da macht ihm keiner was vor. Aber mit den Bildern von der M1 kann der FPÖ-Chef an dem Abend nicht mithalten.
Auf Krücken & in Kinderwägen
Auf dieser ungarischen Autobahn passiert an diesem Abend Historisches. Männer, Frauen und Kinder sind unterwegs Richtung Österreich. Ausgezehrt und erschöpft, aber mit freudiger Erwartung in den Gesichtern. Hunderte. Vorneweg trägt einer die Fahne der Europäischen Union, ein Mann im Rollstuhl hält ein Bild von Angela Merkel in die Höhe. Kleinkinder werden getragen und in Kinderwägen geschoben. Einbeinige Männer auf Krücken halten mit im Flüchtlingstreck. Im Fernsehen Bilder von den am Bahnhof Keleti Zurückgebliebenen – ein Flüchtling mit einem Kind auf den Schultern wehrt sich gegen aggressive ungarische Hooligans, die von einem Ländermatch kommen.
Lernen Sie Geschichte, Herr Orban
Auf Twitter erste Bilder von Ungarn, wie sie 1956 vor den Sowjets nach Österreich geflüchtet sind. Lernen Sie Geschichte, Herr Orban. Doch dessen Geist spricht mehr aus dem Verhalten der Hooligans. Was für eine Schande für einen EU-Regierungschef. Orban will das deutsche Problem, wie er die Flüchtlinge genannt hat, denn auch so rasch wie möglich loswerden. Die Polizeit eskortiert den bewegenden Auszug aus Ungarn, die Politik stellt Busse in Aussicht, die die Flüchtlinge an die Grenze bringen sollen. Die Busse kommen und holen die Menschen von der Straße.
Wien & Berlin sagen Welcome
Als sie ihren Marsch Richtung Wien begonnen haben, wird rasch klar, dass an der Reaktion darauf auch die Glaubwürdigkeit Österreichs und Deutschlands gemessen werden würde. Ein hochpolitisches Ereignis, und die Kanzlerämter in Wien und Berlin schätzen das auch ganz richtig ein. Hinter den Kulissen wird die Aufnahme der Flüchtlinge vorbereitet, die Umgehung der Dublin-Regelung wird mit der aktuellen Notlage an der Grenze argumentiert. Zugleich wird Orban in einer gemeinsamen Erklärung von Wien und Berlin in die Pflicht genommen, was die umstrittene Regelung zur fairen Verteilung von Asylwerbern innerhalb der Union betrifft.
Versteckspiel am historischen Tag
Kommuniziert wird das historische Ding gegen Mitternacht über einen kargen Facebook-Eintrag auf dem Account von Bundeskanzler Werner Faymann, den der SPÖ-Kommunikationschef und frühere Kanzlersprecher Matthias Euler-Rolle dann auch auf Twitter verbreitet. That’s it. Und das ist zu wenig. Politik lebt vom Kommunizieren, Politik ist Kommunikation. Wer entkräftete Menschen in dieser Situation stundenlang auf einer Autobahn marschieren lässt, ohne ihnen irgendeine Botschaft zukommen zu lassen, der agiert herzlos. Wer es überhaupt zu diesem Marsch kommen lässt, der sowieso. Das Herzlose mag vielleicht keine politische Kategorie sein, aber es wirft entscheidende politische Fragen auf.
Christian Kern kann auch Kanzler
Wer hat verfügt, dass keine Züge mehr fahren dürfen? Wer ist verantwortlich, dass Flüchtlinge zum politischen Spielball geworden sind? Sollte Orban mit Blick auf eine europäische Lösung in die Enge getrieben werden, um Zugeständnisse machen zu müssen? Die Flüchtlinge haben die Politiker mit ihrem #marchofhope jedenfalls gezwungen, das Spiel zu beenden. Die Zivilgesellschaft und zentrale Figuren wie ÖBB-Chef Christian Kern (der sich damit nachdrücklich für eine politische Aufgabe empfohlen hat – um ein wenig in den Wunden seiner früheren Eigentümervertreterin Doris Bures zu wühlen) haben Druck gemacht und mitgeholfen.
Autobahn versus Fußgängerzone
Die Problemlösung beginnt freilich erst und wird schwierig genug werden. Wichtig wäre: Die Bilder dieses letztlich würdevollen Auszugs aus Ungarn im Kopf behalten und sie der Dutzendware vom Viktor-Adler-Markt gegenüberstellen. Dann klappt das auch mit den Herbstwahlen. Dass die nicht ein einziges Menetekel der Xenophobie werden.