Schwere Partie
Die Chemie stimmt nicht mehr. Wissenschafter haben vier neue Elemente gefunden. Das Periodensystem muss um Ununtrium, Ununpentium, Ununseptium und Ununoctium ergänzt werden. Flüchtige superschwere Elemente, die man eigentlich nur erahnen kann. Aber sie sind da, so wie die neuen Verhältnisse in Europa. Hunderttausende Menschen sind gekommen, um hier Schutz zu suchen und ein besseres Leben zu haben. Auch sie flüchtig, jedoch unübersehbar. Die Chemie stimmt nicht mehr. Und Köln Hauptbahnhof ist das Synonym dafür.
Was da in der Silvesternacht auf der sogenannten Domplatte vor dem Kölner Hauptbahnhof passiert ist, muss verstören und aufrütteln. Männer in Gruppen haben Frauen sexuell attackiert und vergewaltigt, der Migrationshintergrund der Täter ist nicht konkret bewiesen, aber durch Zeugenaussagen und Videoaufnahmen wahrscheinlich. Nach detaillierten Angaben eines beteiligten Polizisten sind auch erst kürzlich nach Deutschland gekommene Asylwerber aufgefallen – ein Widerspruch zu dem, was die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und der Polizeipräsident der Stadt gesagt haben. Letzterer steht mittlerweile durch Rücktrittsforderungen massiv unter Druck.
Transparenz mit Füßen getreten
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wurde die Transparenz von den lokalen Verantwortlichen mit Füßen getreten. Reker gab den Frauen dafür Tipps, wie sie sich gegen sexuelle Übergriffe schützen könnten – und erntete einen Shitstorm in den Sozialen Netzwerken. Die Entschuldigung der Oberbürgermeisterin auf Facebook half nicht mehr viel. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig von der SPD richtete ihr aus, dass die Zeit vorbei sei, in der Frauen keine Miniröcke tragen durften.
Der grapschende Jakob Augstein
Die Kritiker einer allzu wohlmeinenden Asylpolitik ziehen seit Tagen über das Schweigekartell aus Politik und Medien her, die Freunde der Willkommenskultur halten dagegen. Doch die Welcome-Fraktion hat einen schweren Stand. Zumal sie Leute wie Jakob Augstein auf ihrer Seite hat, der angesichts von Köln ernsthaft von ein paar grapschenden Ausländern spricht. Demgegenüber hat etwa Anne Wizorek, die Initiatorin der Social-Media-Kampagne #aufschrei, im ZDF-Morgenmagazin sehr klug und differenziert argumentiert, warum es um Sexismus gehen müsse und nicht um den allfälligen Migrationshintergrund von Tätern.
#aufschrei gegen die große Keule
Und Wizorek kritisierte, dass die, die sich sonst das ganze Jahr nicht um sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen scheren, jetzt plötzlich mit der großen Keule da seien. Das stimmt schon, wie auch viele andere Analysen – zum Beispiel hier. Doch das Gesagte kann nicht wegwischen, dass die schändlichen Ereignisse von Köln eine neue Dimension darstellen. Sexuelle Gewalt in dieser Form kannten wir in Europa bisher nicht, aber es wurden Gewalttaten ähnlichen Musters aus Ägypten – also aus dem arabischen Raum – berichtet. Auch Ur-Feministin Alice Schwarzer fühlt sich an die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz in Kairo 2013 erinnert.
Das Versagen so mancher Medien
Die Chemie stimmt nicht mehr. Das gilt vor allem auch für die Berichterstattung über das Thema Nummer eins, die Flüchtlinge. Die Süddeutsche Zeitung hat bereits am 2. Jänner kurz über die Vorfälle in Köln berichtet, die anderen Medien sind erst am 4. Jänner auf das Thema aufgesprungen – als es in den Sozialen Netzwerken bereits gebrodelt hat. Die Öffentlich-Rechtlichen ließen sich besonders lange Zeit, übrigens nicht nur in Deutschland. Dort mussten sie sich deshalb ganz massive Kritik gefallen lassen, auch von politischer Seite. In der Tat treibt das Netz die traditionellen Medien immer öfter vor sich her, und die Folgen sind bisweilen befremdlich.
Beyond Nanny-Journalismus
So hat die ZDF-Sendung heuteplus am 4. Jänner auf Twitter ernsthaft die Frage gestellt, wie man denn nun über die Übergriffe in der Silvesternacht berichten solle. Und der stellvertretende ZDF-Chefredakteur hat sich einen Tag später auf Facebook für die Fehleinschätzung entschuldigt, erst so spät ausführlich über Köln berichtet zu haben. Das war nicht einmal Nanny-Journalismus, wie ihn Jan Fleischhauer auf Spiegel-Online famos zerlegt. Das war nur noch peinlich. Derweil lief im Netz die Debatte auf Hochtouren: auf Social Media, in den Blogs, auf Online-Portalen verschiedenster Art.
Ein Lemmium Hoffnung
Es ist für viele in Politik und Medien an der Zeit, ihr Periodensystem auf den neuesten Stand zu bringen. Damit die Chemie irgendwann wieder stimmt und die schwere Partie nicht noch schwerer wird. Die Fans des vor wenigen Tagen verstorbenen Gründers der Heavy-Metal-Band Motörhead, Lemmy Kilmister, gehen voran: mit einer Petition, die schon von mehr als 100.000 Menschen unterzeichnet worden ist. Sie wollen, dass eines der vier neuen Elemente im Periodensystem – zwei davon zählen zu den Schwermetallen, englisch: Heavy Metal – im Andenken an den Motörhead-Sänger Lemmium genannt wird. Auch eine schwere Partie, aber sie versuchen es immerhin.