Santa Claas
Claas Relotius mit seinen Lügengeschichten im Spiegel und anderen Medien lastet bleischwer auf einer Branche, die seit Jahren ökonomisch und vom journalistischen Selbstverständnis her unter Druck steht wie kaum eine andere. Das Hamburger Nachrichtenmagazin mit dem großen Namen hat das Unfassbare selbst enthüllt und rekonstruiert – zwar als es gar nicht mehr anders ging, aber eben doch. Trotzdem wird auf die am Boden Liegenden nochmal draufgetreten. Subtil und weniger subtil. Für viele sind die irren Enthüllungen ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk. Santa Claas has come to town.
Wer Verantwortung zu tragen hat, wird sie tragen. Das schreibt der künftige Chefredakteur des Spiegel, Steffen Klusmann, in seinem Editorial. Und weiter: Wir als Macher des SPIEGEL müssen einräumen, dass wir in einem erheblichen Ausmaß versagt haben. Reagiert haben die Spiegel-Macher auf den Super-GAU allerdings höchst professionell. Ullrich Fichtner hat den Fall Relotius rekonstruiert, alles zum Thema wurde online frei zugänglich gemacht. Auch die Strecke in der aktuellen Print-Ausgabe, die natürlich mit der Causa aufgemacht hat. Titel ist das berühmte Zitat von Spiegel-Gründer Rudolf Augstein: Sagen, was ist.
Fergus Falls und die Bild-Zeitung als Bühne
Der Spiegel hat auch gleich den Washington-Korrespondenten nach Fergus Falls geschickt – eine Kleinstadt in Minnesota, der Claas Relotius übel mitgespielt hat. Der hatte dort unglaubliche fünf Wochen zum Recherchieren und die Zeit doch nur dazu verwendet, um seine vorgefertigte Geschichte vom Trump-geschädigten Kaff in der US-Provinz mit Lokalkolorit zu bemänteln. Das hat den US-Botschafter in Berlin, Richard Grenell, zu einer Breitseite gegen den Spiegel ermuntert, die wiederum die Bild-Zeitung mit großem Vergnügen wiedergab. Der Trump-Abgesandte Grenell durfte somit in der auflagenstärksten Zeitung Deutschlands dem Spiegel das Vertrauen Amerikas entziehen – und das im Namen jenes Präsidenten, der mit seinen täglich verdrehten Tatsachen und falschen Behauptungen neue Negativ-Standards gesetzt hat.
Wieder Stimmungsmache gegen Asylwerber
Der Spiegel muss da durch. Aber er hat sich zum Beispiel Heimo Lepuschitz nicht verdient. Der Chef-Message-Controller der Regierungspartei FPÖ hat auf den Fall Relotius mit großer Genugtuung reagiert. Er hat aber nicht etwa die Sache mit Fergus Falls in den USA als Beispiel genommen, sondern lieber einen kurzen Relotius-Bericht über einen Asylwerber, der sich vorbildlich verhalten und gefundenes Geld abgegeben hatte. Das kann ja nur eine Lüge sein. Der Spiegel Journalist mit seinen vielzitierten Geschichten über Flüchtlinge, die Geld finden und abgeben, als Fake News Schreiber – ein Megagau und die “perfekte” Bestätigung für alle Lügenpresse Schreier. Leider kein guter Tag für die klassischen Medien. So hat der FPÖ-Kommunikator getwittert.
Blauer Abgesang auf die klassischen Medien
Den Hinweis, dass gerade diese Geschichte eben nicht erfunden war, sondern authentisch ist und bei der Polizei in Aachen aktenkundig, quittierte Lepuschitz bemüht ironisch: Wenn’s im Spiegel steht, kann ich’s halt nicht wirklich glauben. Womit das Narrativ für alle Zukunft feststeht. Der linke Spiegel hat gelogen, glaubt ihm nichts. Und Asylwerber sind keine guten Menschen, aber das wird ja schon länger getrommelt. So wie der Abgesang auf die klassischen Medien auch schon länger ertönt, immer wieder implizierend, dass die sogenannten (der FPÖ sehr nahestehenden) alternativen Medien tatsächlich eine Alternative sein könnten. Alles Roger im blauen Orbit.
Rechnungen mit dem Spiegel werden beglichen
Es arbeiten sich auch andere am Spiegel ab. Nachdem der – wie sich herausgestellt hat – zu Unrecht preisgekrönte Jungstar vom Podest gefallen ist und seine Förderer von einst sich abwenden, werden Rechnungen beglichen. Plötzlich steht auch die Schreibe des Hamburger Nachrichtenmagazins am Pranger, wenn nicht sogar zur Disposition. Allein, dass Ullrich Fichtner die Rekonstruktion des Falles Relotius im typischen Spiegel-Stil abgefasst hat, wird ihm jetzt zum Vorwurf gemacht. Nüchterner hätte das sein müssen, das Magazin dürfe sich keinerlei Deutungshoheit mehr anmaßen.
Der Spiegel rekonstruiert seine größte Niederlage. Packend wie ein Krimi und doch unpackbar. https://t.co/UBV2teafLQ
— Stefan Kappacher (@KappacherS) December 19, 2018
Sound und Überheblichkeit in der Kritik
So wie der deutsche Blogger Thomas Knüwer versuchen jetzt viele, den Sound des Spiegel ins Lächerliche zu ziehen: Am Morgen, der den Journalismus hätte verändern können, blickte Steffen Klusmann aus den Panoramascheiben seines Büros hinaus auf Hamburg. Die ameisengleichen Menschen unten an der Ericusspitze fröstelte es bei drei eisigen Grad, so wie Klusmann beim Gedanken an das, was am Mittag passieren würde. Ein Sturm würde losbrechen, über ihm, über seinem Arbeitgeber, über dem 13stöckigen Haus, das einst dem Hirn des dänischen Star-Architekten Henning Larsen entsprang. Ein Schauer sprühte die ersten Tropfen an Klusmanns Bürofenster.
Schön persifliert. Dabei sind Spiegel-Geschichten immer noch etwas vom journalistisch Besten, das es gibt. Wenn man sich das in Zeiten wie diesen noch zu sagen traut.
Die Aufrufe zur Demut gewinnen freilich dann an Bedeutung, wenn Spiegel-Mitarbeiter wie der Wien-Korrespondent Hasnain Kazim Aussagen wie diese treffen.
(Update: der verlinkte Tweet wurde offenbar gelöscht, sinngemäß stand darin, dass die meisten Menschen nicht selbstständig denken würden. Der Tweet unten ist eine Reaktion darauf.)
https://twitter.com/Klausweber6/status/1076471521114247170
Wo bitte geht’s zur Dokumentationsabteilung?
Die Hausaufgaben sind noch lange nicht gemacht. Auch was die berühmte Dokumentationsabteilung, die angeblich gnadenlosen Faktenchecker des Spiegel betrifft. Wobei man aus österreichischer Sicht dazusagen muss, dass kein Medium hierzulande auch nur relativ irgendwie vergleichbare Ressourcen für redaktionelles Qualitätsmanagement hat – bevor man sich groß über das Versagen des Spiegel im Fall Relotius ereifert. Der Mann hat außerdem auch Blättern in Österreich Geschichten verkauft. Und bei uns hat es Zeiten gegeben, da haben Print-Redaktionen sogar ihre Lektorate eingespart – mit dem Argument, dass auf dem Computer am Arbeitsplatz ohnehin Microsoft Word mit der Rechtschreibprüfung installiert ist.
“Was fehlt, ist kritischer Medienjournalismus”
Noch ein Punkt, den der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen angesprochen hat, ist in dem Zusammenhang sehr wichtig. Es gebe in Deutschland zuwenig kritischen Medienjournalismus, sagt Pörksen. Der Medienjournalismus in diesem Land leidet an einem Kommentarexzess und einem von Promi- und Personality-News vernebelten Blick. Viel zu oft regiert das große Meinen. Und was sagt das Netz? Und wem sollte man heute wieder gratulieren? Was für Deutschland gilt, trifft auf Österreich noch viel mehr zu. Als Vorbild, meint Pörksen, sollte der Spiegel-Reporter Juan Moreno dienen, der den Fall Relotius ins Rollen gebracht hat. Er hat einfach recherchiert, ob stimmt, was sein Kollege so geschrieben hat, hartnäckig und unerschrocken.
Die Devise ist nicht nur: Sagen, was ist. Sondern auch tun, was zu tun ist. Und Selbstvertrauen bewahren. Gerade jetzt, wo sie den Journalismus wieder pauschal als Mainstream & Lügenpresse denunzieren und man an Santa Claas verzweifeln könnte.
Ein Gedanke zu „Santa Claas“
Es gab einmal eine Zeit, als Journalisten nach langer Recherche – oft verzweifelt, weil viel Zeit damit verbracht habend – eine Geschichte verwarfen, da diese sich am Ende in Nichts, sprich: in Wohlgefallen, aufgelöst hatte. Scherzhaft konstatierte man dann: Zuviel Recherche bringt eben jede Geschichte um. Ich erinnere mich gut an diese Zeit. Dann fingen die ersten an, Recherche-Einzelheiten zu gewichten, manch Nebensächliches zur Hauptsache und manch Fußnote zur Titelzeile zu machen. Und schließlich wurden Geschichten nicht mehr re-cherchiert, sondern prädestiniert, vorauseilende Recherche war angesagt – alles, was ins Konzept passte, wurde geschrieben, alles andere beinhart weggelassen. Von da weg war es bis zum völlig freien Erfinden ganzer Storys nur noch ein Katzen- äh-Tastensprung.
Journalisten sollten aufhören, bessere Politiker, Ärzte, Kaufmänner oder Regisseure sein zu wollen; sie haben als breitest wirksames Korrektiv -in allen Gesellschaftssystemen der Welt, also auch unserer Demokratie – ihre eigene wichtige Rolle.