Kaiser-Warnung
Einmal mehr zeigt sich: In Österreich ist der Föderalismus einer der Treiber der Pandemie, schreibt Oliver Pink in der Tageszeitung Die Presse. In der Tat haben manche Landeshauptleute einen krassen Anteil daran, dass die Regierung wenig bis gar nichts mehr im Griff hat. Oder um es mit den Worten des schwarzen steirischen Landeschefs Hermann Schützenhöfer zu sagen: dass ÖVP und Grüne einen Ritt auf der Rasierklinge vollführen. Wann, wenn nicht jetzt sollte man über die Funktionsfähigkeit eines Staates nachdenken, der von den Befindlichkeiten regionaler Granden abhängt – selbst wenn es um Menschenleben geht.
Sebastian Kurz hat die ÖVP nach erfolgreicher Zermürbungstaktik, die gerade in Tirol mit Hilfe der berühmten Adlerrunde frühzeitig und energisch betrieben worden ist, unter ganz klaren Bedingungen übernommen. Die standen nicht erst 2017 fest, als es so weit war und Reinhold Mitterlehner endlich das Handtuch warf. Kurz wusste schon lange vorher, was er wollte und hielt damit auch nicht hinter dem Berg. Strategiepapiere aus seinem Umfeld wurden geleakt und nie dementiert. Das Ziel war: voller Durchgriff in der Partei, nichts sollte den Weg das angeblichen Jahrhundert-Talents – auch dieses Label stammt von Hermann Schützenhofer – an die Spitze behindern.
Die Marketing-Politik vor leeren Regalen
Kurz ist oben angekommen. Doch in der freiheitlichen Korruptionsaffäre mit Beinamen Ibiza und letztlich im Corona-Virus mit seinen heimtückischen Mutationen hat der ÖVP-Wunderwuzzi seine Meister gefunden. Marketing-Politik funktioniert nicht mehr, wenn es nichts zu verkaufen gibt. Nach Ibiza war die sogenannte konservative Wende, die den Autoritarismus des Viktor Orbán zum Vorbild hatte, endgültig in dem zuvor schon allzu bräunlich dünkenden Sumpf untergegangen. Und jetzt in der Pandemie hat Kurz schon so oft gesagt, dass er der Beste ist, und so oft versprochen, dass es bald vorbei sein wird, dass die leeren Impfstoff-Regale noch anklagender wirken. Der Game Changer ist gut, aber aus. Und dann hat Kurz auch noch die Partei nicht im Griff.
Kurzens Geister bedrohen seine Mehrheit
Das Bemerkenswerte ist ja, dass die Volkspartei enorm vom Zugpferd Kurz profitiert. Von Niederösterreich über Tirol und Vorarlberg bis Steiermark und Wien – gar alle sind mit dem Rückenwind des ÖVP-Kanzlers gesegelt und haben dazugewonnen, zum Teil ganz beträchtlich. Deshalb braucht sich Sebastian Kurz auch keine Sorgen machen, dass irgendein bedeutender Landespolitiker aus seinen Reihen gegen die unbeugsame Asyl-Linie der Bundes-ÖVP – Stichwort: Lesbos – und Kinder-Abschiebungen auftritt. Die Granden draußen in den Landen sind ihm was schuldig. Deshalb ist es auch umso bemerkenswerter, was da in Tirol abgegangen ist: Eine Landespartei, die durch Kurz so stark geworden ist, dass sie bei der Nationalratswahl zehn Prozent der ÖVP-Stimmen erreicht hat und entsprechend stark mit Abgeordneten vertreten ist, wendet sich gegen ihren Meister. Die Geister, die Kurz rief, bedrohen seine Mehrheit.
Der Rülpser von hinter den sieben Bergen
Geradezu beängstigend war der Ablauf. Landeshauptmann Günther Platter, seit dem Ischgl-Desaster unter Beobachtung und beständigem Druck, versuchte ein Ischgl II im Zillertal, Bezirk Schwaz, wegzureden. Zahlen wurden beschönigt, bis die Fakten keine Beschönigung mehr zuließen. Es galt, einen Hotspot einer den Impf-Erfolg ernsthaft in Frage stellenden Mutante abzuriegeln. Und als dies längst klar war, schickte Platter noch den Wirtschaftskammer-Präsidenten Christoph Walser und den Obmann des Tiroler Wirtschaftsbundes und Sprecher der Seilbahnwirtschaft, Franz Hörl, vor. Mit unglaublichen Wortmeldungen, man ist im Falle Hörls versucht, Rülpser dazu zu sagen.
Tirols Image-Schaden ist unermesslich
Walser und Hörl haben 2016 gemeinsam den Tiroler Wirtschaftsbund aufgemischt, zunächst waren sie Konkurrenten im Kampf um die Führung, den der mit allen Wassern gewaschene Hörl gewonnen hat. Dann haben sich die beiden zusammengetan. Walser möchte Platter als Landeshauptmann nachfolgen, das ist ein offenes Geheimnis. Gut möglich, dass er gar nicht vorgeschickt wurde, sondern Fakten schaffen wollte. Seine Kampfansage gegen das böse Gesundheitsministerium in Wien war reines Kalkül. Mir san mir, das heißt in Tirol: Bisch a Tiroler, bisch a Mensch. Und das zieht nach wie vor. Wie kurzsichtig das Kalkül auch sein mag: In Deutschland schrillen längst die Alarm-Glocken angesichts der Häufung der bedrohlichen Virus-Variante im Tourismus-Land. Der Image-Schaden könnte angesichts der Tiroler Uneinsichtigkeit kaum größer sein.
Kurz und Anschober kratzen noch die Kurve
Kanzler Kurz und der formal allein zuständige Gesundheitsminister Rudolf Anschober haben gerade noch die Kurve gekratzt. Anschober musste fast schon mitleiderregend in Interviews einen Zwischenstand erklären, der angesichts der klaren Gefährdungslage durch die Mutation im Zillertal nicht zu erklären war, Kurz musste im Hintergrund die schwarzen Mander zu Zugeständnissen bewegen. Wobei der Imageschaden für den Wirtschaftsstandort Tirol und nicht der Gesundheitsschaden für die Bevölkerung in Tirol und weit darüber hinaus ganz klar im Vordergrund gestanden ist. Verräterisch, wie oft der ÖVP-Obmann und Bundeskanzler in der Pressekonferenz am Dienstag betonen musste, dass Tirol bei Ausbreitung der Südafrika-Variante selbst für geimpfte Touristen aus dem Haupt-Herkunftsmarkt Deutschland Feindesgebiet bleiben würde.
Als sie nackt waren, kam die Reisewarnung
Kurioserweise war die sogenannte Reisewarnung für Tirol, ausgegeben am Montag, nach hektischen Verhandlungen zwischen Bund und Land das ganze Wochenende hindurch, das kräftigste Lebenszeichen der schwarz-grünen Koalition in jüngerer Zeit. Gemeinsam ausgeschickt von Bundeskanzleramt und Gesundheitsministerium, inhaltlich an Absurdität kaum zu überbieten, rechtlich nicht ganz ein Nullum. Es war tatsächlich ein Akt der politischen Verzweiflung, wie es ein Verwaltungsrechtsexperte genannt hat. Man könnte auch sagen, es war ein Hilfeschrei mit der Botschaft: Wir stehen an und wissen nicht weiter. Nie hat sich das Bild von Des Kaisers neue Kleider mehr aufgedrängt als jetzt. Der Unterschied zum Märchen ist der, dass es mehrere Kaiser sind, die ab einem bestimmten Punkt gewusst haben, dass sie nackt sind.
Die einen am Sonntag um Mitternacht, als sich ihr klägliches Scheitern über den neuen Tag mit den Lockerungen zu legen begann. Die anderen hinter den sieben Bergen, als die Binnen-Reisewarnung draußen war, die als härtestes Misstrauensvotum ever gegen den Feudal-Föderalismus made in Austria in die Geschichte eingehen wird.