Farbfilm gerissen
Was für eine Parallelaktion: In Berlin verabschiedet das Stabsmusikkorps der Bundeswehr die deutsche Kanzlerin Angela Merkel nach 16 Jahren im Amt, sie geht hoch geachtet, bekommt Würdigungen wie diese von Deniz Yücel mit auf den Weg und hat selbst im Umgang mit schwierigsten Partnern Klasse gezeigt. Ein Musikwunsch von ihr war Nina Hagen: Du hast den Farbfilm vergessen. In Wien hat es bei Sebastian Kurz am selben Tag endlich Klick gemacht, er trollte sich als gejagtes Opfer aus der Politik. Sein Türkis hat Nach-Nachfolger Karl Nehammer gleich als das benannt, was es war: Marketing. Der Farbfilm der ÖVP ist gerissen. Alles so schön türkis und später nicht mehr wahr.
Wie wenig Klasse der Abgang von Kurz gehabt hat, das ist hier sehr gut beschrieben. Kein Wort, das traf, zitiert Armin Thurnher Karl Kraus, um mit dem Fazit zu schließen: Der Mann, der es nicht traf, hinterlässt ein angepatztes Land. Bis zuletzt hat Kurz, der sich jetzt um sein neugeborenes Kind kümmern will, für das er zuvor nicht einmal einen Papamonat nehmen wollte, an sein Comeback geglaubt und intensiv daran gearbeitet. Allein: es gab außer beim Seilbahner Franz Hörl und ein paar versprengten Getreuen keinen Rückhalt mehr in der Volkspartei. Meine Meinung steht ja fest, ich hab sie seinerzeit auch dem Sebastian Kurz gesagt. Es gibt nichts Erfolgreicheres als den Erfolg. Wenn man Erfolg hat, braucht man kein Statut, wenn man Misserfolg hat, hilft einem das Statut nicht. Hermann Schützenhöfer am Freitag in der ZIB2. Er war auch der Erste, der öffentlich keinen Zweifel daran gelassen hatte: Sebastian, es ist vorbei.
Wieder die Länder in voller Begehrlichkeit
Jetzt stehen die Länder wieder da, voller Begehrlichkeit. Schützenhöfer hat noch vor seinem neuen geschäftsführenden ÖVP-Parteiobmann Karl Nehammer verkündet, dass Heinz Faßmann als Bildungsminister ausgedient hat. Nachfolger wird ein Steirer, der Rektor der Universität Graz, Martin Polaschek, der sich – ich muss mir jetzt selber auch erst ein Bild machen über die konkreten Dinge – mitten in der Pandemie erst einmal einarbeiten muss. Schützenhofer sagt: eine exzellente Wahl. Und auch Thomas Stelzer in Oberösterreich strahlt: Ich freue mich sehr, dass wir neben der Bundesministerin Raab und dem so wichtigen Klubobmann Wöginger jetzt auch die Staatssekretärin im Kanzleramt haben. Namentlich Claudia Plakolm, Bürgermeister-Tochter und Vorsitzende der Jungen ÖVP, die man beim innerparteilichen Machtausgleich jetzt nicht mehr vergessen darf. Sebastian Kurz hat seine JVP-Leute überall gut platziert.
Die Rückkehr der NÖ Stahlhelmfraktion
Stelzer hat es ja geschafft, aus seinem Versagen beim Pandemie-Krisenmanagement scheinbar unbeschadet hervorzugehen. Der Oberösterreicher, der auch stellvertretender Bundesparteiobmann ist, hat das Landtagswahl-Krisenmanagement vorgezogen und den Einzug der Impfgegner und Corona-Leugner in den Landtag dennoch nicht verhindert. Das pickt. Sein Salzburger Kollege Wilfried Haslauer ist hingegen sichtbar angeschlagen, dem hat die Kronenzeitung jeden Respekt entzogen. Man könnte jetzt mutmaßen, dass Haslauer innerparteilich schon so schwach ist, dass er Karoline Edtstadler nicht als Innenministerin durchsetzen konnte. Die Salzburgerin wäre die logische Wahl gewesen, aber nein: mit Gerhard Karner kommt ein Epigone des früheren Innenministers und später wegen Korruption verurteilten Ernst Strasser. Die NÖ-Stahlhelmfraktion ist zurück.
Sie stehen vor den Trümmern ihres Renommées
Johanna Mikl-Leitner sagt jetzt auch wieder in der Bundes-ÖVP, wo es lang geht. Der Wahl-Niederösterreicher aus Wien Karl Nehammer darf unter ihr Bundeskanzler sein, eine Rolle mit zuletzt atemberaubend rasch wechselnder Besetzung. Alexander Schallenberg, den sein Mentor Kurz per SMS um drei Uhr in der Früh in diese Position genötigt hat, muss den 2. Dezember, als Sebastian Kurz die Familien-WhatsApp-Gruppe verlassen hat, als Tag der Befreiung empfunden haben. Schallenberg darf jetzt, vor den Trümmern seines politischen Renommées stehend, wieder den Außenminister machen. Michael Linhart hat der Partei wieder einmal treu gedient und darf gehen.
Rochaden nach dem Uralt-Machtverständnis
Bei solchen Rochaden blitzt das Uralt-Machtverständnis der ÖVP-Niederösterreich auf, die Sebastian Kurz gemacht und jetzt wieder abserviert hat. Man erinnert sich daran, wie Erwin Pröll unter den verdutzten Augen von Bundesparteiobmann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner seine Kronprinzessin Mikl-Leitner aus dem Innenministerium quasi abkommandiert und den im Land lästig gewordenen Wolfgang Sobotka dorthin gesetzt hatte. Auf die Journalisten-Bemerkung bei der Pressekonferenz, dass dies schon ein erstaunlicher Coup sei, wurde Pröll so richtig böse und sagte drohend: Sie wissen schon, dass das das Wort für Staatsstreich ist?! Aber auch das kam dann nicht zum Chef. Dieser Coup steht in einer Reihe mit Prölls Kokettieren mit der Bundespräsidenten-Kandidatur, für die er dann doch zu mutlos war, was der ÖVP 2016 den Verlegenheits-Kandidaten Andreas Khol und ein 11-Prozent-Desaster im ersten Wahlgang bescherte.
Das Dienen steht nicht im Vordergrund
Und es passt zu der Zwischenparkung von Elisabeth Köstinger als Nationalratspräsidentin für wenige Wochen, weil Sebastian Kurz das zweithöchste Staatsamt für parteipolitische Verschubmanöver miss-brauchte. Er hat das, was die Chats offenbarten, auch von seinen Förderern in St. Pölten gelernt: Politik ist Machtausübung, und wenn es sein muss, auch brutal. Das Dienen kommt erst danach. Der von Kurz demolierte Reinhold Mitterlehner hat es den ÖVP-Granden im Standard-Interview grandios um die Ohren gehaut: In Wirklichkeit traut sich im ÖVP-Bereich niemand einzugestehen, dass an der jetzigen Situation alle Beteiligten ihren eigenen Anteil haben. Um den zu erkennen, brauche ich gar keine Staatsanwaltschaft, das kann ich anhand der Chats beurteilen, dass demokratische Spielregeln nicht eingehalten wurden. Und jetzt soll es der Karl Nehammer richten.
Nehammer und die toughe Herausforderung
Eine toughe Herausforderung nennt Nehammer das Amt des Bundeskanzlers, für das er am Nikolaus-Tag vom Bundespräsidenten angelobt wird. Vor dem geistigen Auge erscheint die Antonow-Frachtmaschine auf dem Flughafen von Athen, der damalige Innenminister posiert im blütenweißen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln auf der heruntergeklappten Ladeluke. Eine Foto-Opportunity mit Hilfsgütern für das Schlammlager Moria auf Lesbos, die nie dort angekommen sind. Marketing kann Nehammer auch ganz gut. Und der gelernte Rhetorik-Trainer findet auch staatsmännisch anmutende Worte wie nach dem Terroranschlag in Wien vor einem Jahr, wo er erfolgreich weg-geredet hat, dass es eigentlich Zeit gewesen wäre, politische Verantwortung für die Toten, Verletzten und Traumatisierten zu übernehmen.
Wenn Günther Platter laut im Wald pfeift
Nehammer versteht unter Verantwortung, an der Macht zu bleiben. Davon ist ihm aktuell noch mehr zugefallen, als er sich wahrscheinlich träumen hat lassen. Anders als sein Vorgänger Alexander Schallenberg, der plötzlich Kanzler und – ganz offen – auch plötzlich überfordert war, traut sich Nehammer das Amt zu, für das ihn kein Wähler und keine Wählerin, sondern ausschließlich die Chefin der ÖVP Niederösterreich auserkoren hat. So gesehen war es nicht überraschend, dass der Tiroler ÖVP-Chef und Landeshauptmann Günther Platter in der ORF-Pressestunde auf lautes Pfeifen im Wald gesetzt hat, als es um die Frage von Neuwahlen ging: Ich kenne Wenige, die dafür sind, sagte Platter. Die Menschen wollten keine Wahlen, denn das bedeute Verunsicherung. Wir stehen den Wählern im Wort. Die 37 Prozent haben 2019 freilich weder Platter, noch Mikl-Leitner und schon gar nicht Haslauer oder Stelzer gewählt. Sondern den Farbfilm mit der laut Platter unglaublichen Strahlkraft, die jetzt unglaublich schnell verblasst ist.
Die ÖVP fürchtet nichts so sehr wie rasche Neuwahlen, bei denen sie Richtung 20 Prozent abstürzt, in die Opposition verbannt wird oder – wahrscheinlicher – wieder den Juniorpartner der machtbegierigen SPÖ spielen muss. Mit Karl Nehammer haben die Landeschefs einen Frontmann nominiert, der das verhindern soll. Er ist mit den Grünen kompatibel und anpassungsfähig, auch wenn sein martialischer Touch das nicht auf den ersten Blick vermuten lässt. Es geht um Machterhalt und nicht um Neuaufstellung.
Die Stärke der Grünen & die Existenzberechtigung
Dafür müsste sich die ÖVP neu erfinden, nicht nur neu anmalen – wie es Johannes Huber hier beschreibt. Das wird nicht stattfinden, auch weil die Grünen die Nehammer-ÖVP stützen werden. Kogler & Co. haben kein Interesse an Neuwahlen. Und sie sind jetzt in einer unglaublich starken Position, echte Reformen durchzusetzen. Das müssen sie auch tun, und sie dürfen sich von Stahlhelmen in der Herrengasse, Wirtschaftsbund-Lobby in der Himmelpfortgasse und Zurufen aus St. Pölten nicht davon abhalten lassen. Dann – und nur dann – hat diese zerrüttete Koalition noch irgendeine Existenzberechtigung.