Es knattern die Fähnlein
Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird neutral bleiben. So läuft bei uns eine sicherheitspolitische Debatte an der Zeitenwende. Der ÖVP-Chef und Bundeskanzler sagt es auf einem Hoteldach in Doha, nachdem er am Vortag noch in Abu Dhabi mit den – im Jemen seit Jahren kriegsführenden – Vereinigten Arabischen Emiraten verhandelt hat, damit wir auf der Gas-Lieferliste weiter oben stehen. Der ÖVP-Klubobmann hat es in einer bemerkenswerten Rede im Parlament noch einmal bekräftigt. Und die ÖVP-Gesundheitssprecherin hat es für die SPÖ-Vorsitzende als Replik noch einmal nachgebetet. Die schein-heilige Neutralität als knatternde Fahne unseres Zeitgeists.
Die Neutralitätsdebatte ist in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder aufgepoppt, im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union und natürlich beim Vertrag von Lissabon, der eine Beistandspflicht in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gebracht hat. Im Artikel 42, Absatz 7 des Vertrages heißt es: Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung. Sprich: wäre die Ukraine EU-Mitglied, dann wäre jetzt dieser Bündnisfall eingetreten. Freilich mit einer Hintertür für Länder wie Österreich: Für die Unterstützung wird kein formelles Verfahren vorgegeben. Die Klausel legt zudem nicht fest, dass eine militärische Unterstützung erfolgen sollte. EU-Mitgliedstaaten wie Österreich, Finnland, Irland und Schweden können somit unter Wahrung ihrer Neutralität kooperieren. So steht es auf der Website des Europäischen Parlaments.
Klauseln, die das Schlawinertum fördern
Klauseln wie diese fördern ein Schlawinertum, das Österreich in der Sicherheitspolitik perfektioniert hat. Als jüngster Höhepunkt in der Hinsicht kann die Entscheidung der Europäischen Union gesehen werden, um 450 Millionen Euro Waffen an die Ukraine zu liefern – vor allem was das für das neutrale Österreich bedeutet. Die Erklärung geht so: Das Geld, das aus der Europäischen Friedensfazilität – einem Budgettopf zur Stärkung der Streitkräfte – kommt, muss ja nicht genau der Anteil sein, den Österreich in diesen Topf eingezahlt hat. Dieser Anteil ist quasi noch komplett drinnen im Topf, der wird dann einmal für etwas anderes verwendet. Mehr Schlawiner geht nimmer. Und genau so spielt es sich auf der parteipolitischen Ebene ab, wo jeder sein Neutralitätsfähnlein im Wind flattern lässt.
In der SPÖ gab es einmal einen Revoluzzer, der heißt Josef Cap und verbringt seine Politikerpension jetzt gern im Fellner-Fernsehstudio. Cap war als einfacher Abgeordneter für einen NATO-Beitritt Österreichs, hat die Position dann aber verworfen, als er ins Partei-Establishment aufgerückt ist. Kein Wunder: die SPÖ ist die Gralshüterin der Neutralität.
Die Gralshüterin SPÖ und die Dialogmacht
Die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures hat das in der Sendung Hohes Haus zuletzt so zum Ausdruck gebracht: Österreich ist mit dieser Neutralität und unserer Haltung auch als aktive Neutralität gut gefahren, wir sind nicht im Wettstreit, wer die größte Armee hat oder ob wir eine Atommacht sind, nein, Österreich ist eine Dialogmacht. Große Worte, die der Russland-Experte Gerhard Mangott in der ZIB2 zurückgestutzt hat, er bezog sich auf das Hofieren von Wladimir Putin durch Österreichs Politik: Also da hat man schon eine sehr russlandfreundliche Position bezogen, sich auch selbst überschätzt, als sogenannter Brückenbauer zwischen der Europäischen Union und Russland. Auf uns hat in der Europäischen Union diesbezüglich niemand gewartet.
Der eingefrorene ÖVP-Ton aus Khols Horn
Die ÖVP hatte auch immer wieder Phasen, in denen mit der NATO geliebäugelt wurde. Und dementsprechend gab der frühere Nationalratspräsident und Mit-Architekt der ersten schwarz-blauen Koalition, Andreas Khol, angesichts des Überfalls von Putin auf die Ukraine einen eingefrorenen ÖVP-Ton von sich: Ein neutraler oder bündnisloser Staat bleibt allein, wenn er angegriffen wird, so Khol gegenüber der Kleinen Zeitung. Und der aktuelle ÖVP-Wehrsprecher assistierte: Aus diesem Grunde muss über die österreichische Neutralität und ihre Ausgestaltung ernsthaft diskutiert werden, denn sie ist nur eine Seite einer Medaille.
Der Zuruf an den Kanzler auf dem Hoteldach
Für die außenpolitische Sprecherin der SPÖ, die zugleich die Parteichefin ist, waren das aufgelegte Elfmeter: Herr Bundeskanzler, schaffen Sie Klarheit. Geben Sie ein eindeutiges und unmissverständliches Bekenntnis zu unserer Neutralität ab! twitterte Pamela Rendi-Wagner streng. Und Karl Nehammer reagierte auf dem Hoteldach in Doha mit Blick auf den Persischen Golf auf den Zuruf: Österreich war neutral, ist neutral und wird neutral bleiben. Der Kanzler hatte nur vorher schon einen Fehler gemacht und in der ORF-Pressestunde gesagt, die Neutralität sei in einer Drucksituation entstanden und Österreich von den Sowjets praktisch aufgezwungen worden. Gemeint war das Moskauer Memorandum, in das freilich auch diplomatischer Input von österreichischer Seite eingeflossen ist. Nehammers Aussage war jedenfalls für SPÖ und FPÖ eine willkommene Angriffsfläche in der Parlamentsdebatte vom Dienstag. Man traue dem Mantra vom neutral sein und bleiben nicht, so die Opposition.
Der FPÖ-Obmann verwechselt die Grundlagen
Die FPÖ, die in den 1990-er Jahren noch Anträge auf NATO-Beitritt im Parlament eingebracht hatte, ist das Fähnlein, das am lautesten knattert. Der Abgeordnete Axel Kassegger befand: 10.000 Kampfhelme und Splitterschutzwesten an die Ukraine zu liefern, geht sich einfach mit dem Neutralitätsbegriff nicht aus. Und die Sanktionen gegen Russland seien ganz übel: Putin wendet sich zu China, zu Indien oder dem Iran. Hier werden neue Allianzen zum Schaden Europas geschmiedet. FPÖ-Parteiobmann Herbert Kickl fiel damit auf, dass er als glühender Verfechter der Neutralität diese in Artikel 1, Absatz 1 unseres Staatsvertrags verankert glaubt, dabei steht im Staatsvertrag kein Wort von der Neutralität. Diese regelt das am 26. Oktober 1955 beschlossene Verfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs. Die Grünen sind in der Frage wie immer fein in Deckung und natürlich pro Neutralität. Einzig die NEOS bekennen sich dazu, die Sicherheitspolitik offen zu diskutieren.
Der Nationalratspräsident plötzlich impartial
Die vielen Fähnlein dürften den ÖVP-Nationalratspräsidenten ordentlich verwirrt haben. Wolfgang Sobotka sprach von einer Krise zwischen Russland und der Ukraine, als er in die Tagesordnung einging. Gerade Sobotka, der sonst wenig Feingefühl zeigt, wenn es um Unparteilichkeit geht, war plötzlich fast so unparteilich wie die UNO – die Ukraine Crisis Communication Guidelines an die Mitarbeiter verschickt hat. Ganz im Sinne Putins sollen die Wörter Krieg und Invasion nicht verwendet und auch keine Social Media Accounts mit ukrainischen Flaggen versehen werden. We as international civil servants have a responsibility to be impartial, heißt es in dem hier zitierten Mail. Wir wollen Sobotka nicht unterstellen, dass er auch so weit gehen könnte. Doch dass ÖVP-Klubobmann August Wöginger den Freiheitlichen vorgeworfen hat, sie würden das Wort Angriffskrieg nicht über die Lippen kriegen, bekommt so noch einmal einen eigenen Geschmack.
Polen liefert MIG-29 und EU erwägt Warnung
Wir sehen eine vom Kanzler auf dem Hoteldach in Doha für beendet erklärte Neutralitätsdebatte, die munter weitergeht. Auch Moskau hat mit einem bemerkenswerten Statement seinen Beitrag dazu geleistet, schreibt “Neutralität” bereits in Anführungszeichen und droht unverhohlen, während bei uns die parteipolitischen Fähnchen im Wind vor sich hin knattern. Indessen hat die polnische Regierung angekündigt, ihre MIG-29 Kampfjets den USA zu überlassen und sie auf die Militärbasis im deutschen Ramstein zu überstellen, zwecks Weitergabe an die Ukraine. Und der Spiegel berichtet, dass die EU-Staaten (nur zur Sicherheit: da gehört Österreich dazu) für das Gipfeltreffen in Versailles eine Bündnisfall-Warnung an Russland erwägen. Der jüngste Entwurf der Abschlusserklärung enthalte einen Hinweis auf die Beistandspflicht der EU bei einem Angriff auf eines ihrer Mitglieder. Bleibe das so stehen, wäre das nach Ansicht von Diplomaten eine klare Warnung der EU an Russlands Präsident Putin.
Tu felix Austria warst, bist und bleibst neutral
Und wir? Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird neutral bleiben. Mögen andere Kriege unterstützen, um die Demokratie in Europa gegen einen unberechenbaren Aggressor zu verteidigen – wir hängen unsere Fähnlein nach dem Wind, der aus den Umfragen weht. Und hoffen, dass er angesichts des Irrsinns in der europäischen Nachbarschaft nicht dreht. Sonst müssten wir am Ende vielleicht doch noch ernsthaft diskutieren und könnten es nicht bei Lippenbekenntnissen zur Erhöhung des Verteidigungsbudgets bewenden lassen.