Regieren am Limit
Das ist eine ganz schön dünne Schicht, die uns da trennt von einer ziemlichen Eskalation und einer Katastrophe. Mit diesem Satz von SPD-Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt endet die Dokumentation Ernstfall – Regieren am Limit, in der Stephan Lamby das Innenleben der deutschen Ampel-Regierung seit dem Einmarsch von Putins Truppen in der Ukraine beleuchtet. Der Satz steht metaphorisch für das dünne Eis, auf dem dieser brutal reale Film abläuft. Er zeigt den Aufbruch des pazifistischen Deutschland zu einer Positionierung in globaler Verantwortung – und wie extrem das die Regierenden fordert, nicht selten auch überfordert. In Österreich läuft ein völlig anderer Film, und die Überforderung war der Stargast bei der Premierenfeier.
Zu Jahresbeginn 2023 hat der deutsche Kanzler Besuch von den Sternsingern, zeigt uns die ARD-Doku. Dazu das Insert: Nach dem Besuch der Sternsinger vereinbaren Olaf Scholz und Joe Biden die Lieferung von Panzern an die Ukraine. War das zu spät? Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen antwortet darauf so: Die Ukrainer würden sagen, das hättet ihr aber auch früher machen können und das hätte uns auch sehr geholfen – und ich würde ihnen da nicht widersprechen. Scholz entgegnet: Alle Entscheidungen, die wir getroffen haben, sind zur richtigen Zeit getroffen worden. Das war immer Teil unseres Abwägungsprozesses, eben weil wir nicht alleine handeln wollten, sondern immer mit anderen zusammen.
Kriegstreiber & Schweißtreiber
Olaf Scholz nimmt Rücksicht auf die pazifistische Grundstimmung im Land, aber er handelt. Und wenn sein Auftritt mit Kriegstreiber-Rufen gestört wird, dann wird er auch einmal deutlich und sagt, wer der wahre Kriegstreiber ist: Das ist Putin! Wird Österreichs Bundeskanzler auf Putin angesprochen und gefragt, ob der ein Kriegsverbrecher sei, dann bekommt er einen Schweißausbruch, wenn man den Ausführungen im Blog von Christian Nusser glauben will. Die Szene wurde jedenfalls aus der Rohfassung des ORF-Sommergesprächs aus maskenbildnerischen Gründen herausgeschnitten, und wenn Karl Nehammer geschwitzt hat, dann eher nicht wegen Putin. Den hat er frank und frei als Kriegsverbrecher bezeichnet. Ansonsten nimmt auch Nehammer auf die Grundstimmung im Land Rücksicht, aber er handelt lieber nicht. Wir waren neutral, wir sind neutral, und wir bleiben neutral.
Das handelnde Sicherheitsrisiko
Es reicht schon, wenn ihn das handelnde Sicherheitsrisiko Herbert Kickl als Kriegstreiber abkanzelt, nur weil sich Österreich formvollendet in die Sky Shield Initiative hineinschwindeln will und so tut, als hätte eine gemeinsame Luftabwehr mit NATO-Staaten rein gar nichts mit der Neutralität zu tun. So wie die anhaltend hohen Gas-Importe aus Russland nichts mit der Finanzierung des Angriffskriegs auf die Ukraine zu tun haben. Wer da Blutgeld sagt, wie der Vertreter der Europäischen Kommission in Österreich, der wird stante pede ins Außenamt zitiert. Alexander Schallenbergs Mantra von Russland wird nicht vom Globus verschwinden umweht diese Kopfwäsche, die am Ende ein Kaffee war. Dabei hat Karl Nehammer in seiner großen Not – Codewort Energieversorgungssicherheit – dem Martin Selmayr längst recht gegeben: Das ist nicht angenehm, das ist auch moralisch nicht angenehm, aber es ist real, und es ist meine Verpflichtung als Bundeskanzler, das zu tun. Regieren am und über dem Limit. Ein bis heute erratisch nachklingender Besuch beim Kriegsverbrecher in Moskau inbegriffen.
Das fossile Klimaschutz-Anliegen
Nehammers Nachsatz in Sachen russisches Gas klang im Sommergespräch so: Und dann, wenn wir in der Lage sind, eben tatsächlich unabhängig sein zu können, deswegen ja auch grundsätzlich das Anliegen, von fossiler Energie, Thema Klimaschutz, unabhängiger zu werden… Da hat Susanne Schnabl den ÖVP-Obmann mit dem Hinweis unterbrochen, dass seine Nicht-Festlegung auf die Frage, wann denn endlich das überfällige Klimaschutzgesetz komme, schon ausgiebig Thema gewesen sei. Dazu passt die ganz aktuelle Meldung im Kurier, wonach die ÖVP beim Erneuerbaren-Wärme-Gesetz noch einmal zurück an den Start wolle. Das Gesetz wurde von der Struktur her falsch aufgebaut, da hat man nicht alles mitgedacht, wird die parlamentarische Energiesprecherin Tanja Graf zitiert. Stunden später rückten die Klubchefs August Wöginger und Sigrid Maurer aus, um zu beschwichtigen: Die Verhandlungen über das EWG liefen zügig, man sei bemüht, rasch zu einem guten Ergebnis zu kommen.
Das Heizungsgesetz & die Intrigen
In der ARD-Doku hat das deutsche Pendant, das Gesetz für Erneuerbares Heizen, auch seinen Platz gehabt, Stichwort Überforderung. Der Entwurf hat vor der Zeit seinen Weg in die Bildzeitung gefunden, und die hat mit ihrer Reichweite eine Kampagne gestartet, die viele Deutsche extrem verunsichert hat. Wann man die Heizung gegen welche tauschen soll und wie man das alles bezahlen kann, ist für nicht wenige Menschen eine fast existenzielle Frage. Jetzt ist das deutsche Gesetz vom Bundestag beschlossen worden, aber die Verunsicherung sei geblieben, so der Tenor im Talk Hart, aber fair im Anschluss an die Dokumentation. Dort wurde auch ausgesprochen, dass die Regierungspartei FDP am ehesten Interesse gehabt habe, den Entwurf auf den Boulevard zu werfen – was die Partei dementiert. In Österreich passiert die Verunsicherung von Seiten der Kanzlerpartei – und das ganz offen.
Die Paznauner Ausgabe des Olaf Scholz
Überrascht muss man darüber freilich nicht sein, denn die Verunsicherung manifestiert sich im Bundeskanzler himself. Zum Beispiel indem sich der ÖVP-Obmann zur Premierenfeier eines Films begibt, den unbekannte Geldgeber finanziert haben und der allein der Huldigung seines politisch gescheiterten Vorgängers dient. Eine Mitarbeiterin von Nehammer hat auch noch fleißig Fotos gemacht und sie dem Boulevard zur Verfügung gestellt. Der Tiroler ÖVP-Chef Landeshauptmann Anton Mattle, vom Typ her die Paznauner Ausgabe eines Olaf Scholz, hat auf die Frage des Standard, ob er sich den Film anschauen werde, eine elegante Antwort gegeben: Ich bin kein klassischer Kinogeher. Dass es gleich zwei Filme über einen sehr jungen Mann gibt, der eine Zeitlang auch Bundeskanzler in Österreich war, ist interessant. Er muss auch seine Talente gehabt haben. Mattle hat damit sehr trocken alles gesagt, was zu der PR-Aktion zu sagen ist. Und er hat hinzugefügt: Die politische Zeit des Sebastian Kurz war. Punkt.
Die Litigation-PR für einen Grenzgänger
Man muss noch etwas hinzufügen: Es ist Litigation-PR für einen demokratiepolitischen Grenzgänger, der Wahlkampfkosten horrend überzogen und sich und der ÖVP damit immense Wettbewerbsvorteile verschafft hat; der bei seinem Griff nach der Macht von getürkten Umfragen und von Deals mit dem Boulevard auf Kosten der Steuerzahler profitiert hat; der bei gebührender Unschuldsvermutung Gegenstand umfangreicher Korruptionsermittlungen der Wirtschafts- und Korruptions-Staatsanwaltschaft ist und von Kronzeugen belastet wird. Gegen das Tool zur Machtübernahme, über das vor Gericht zu verhandeln sein wird, nimmt sich die bereits genehmigte Anklage wegen falscher Beweisaussage wie ein Kindergeburtstag aus.
Der Anstandsbruch & das Sagbare
Armin Thurnher hat in seinem bei Zsolnay erschienenen Essay Anstandslos noch etwas hinzugefügt: Die Öffentlichkeit empört sich allenfalls über mutmaßliche Rechtsbrüche, nicht über den großen Anstandsbruch, den er vornahm. Um den ersten mutmaßlichen Rechtsbruch geht es im Prozess wegen Falschaussage ab 18. Oktober. Der Anstandsbruch hat die ÖVP dorthin gebracht, wo sie jetzt steht. Die Grenzen des Sagbaren sind durch eine skrupellose Marketing- und Showpolitik – die Karl Nehammer hemdsärmelig und mit Du-Wort zu imitieren versucht – so weit ins Extreme verschoben worden, dass FPÖ-Obmann Herbert Kickl offen rechtsextreme Tendenzen in seiner Partei gutheißen kann. Und es passiert: nichts.
Die ÖVP schießt sich kabarettreif auf Kickl ein, lässt aber die Hintertür zur FPÖ sperrangelweit offen, weil sie in drei (!) Bundesländern mit der Kickl-FPÖ koaliert. Michael Fleischhacker hat es im Talk auf Servus TV so ausgedrückt: Nehammer gehe es nur noch darum, dass er bei der Nationalratswahl Zweiter wird, also vor der SPÖ ist. Besser kann man das momentane Elend der Volkspartei eigentlich nicht auf den Punkt bringen. Parteipolitik am Limit.