Widerruf der Stabilität
Es ist und bleibt eine Grenzüberschreitung, die der Standard mit der Berichterstattung über den Fall der grünen EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling vollzogen hat. Das hat eine Charakter-Debatte samt Schlammschlacht auf dem Boulevard in einem Ausmaß ausgelöst, wie wir es in Österreich noch nicht gesehen haben. Darüber hinaus berührt die Berichterstattung den höchstpersönlichen Lebensbereich unbeteiligter Personen – das war absehbar und hat andere Medien davon abgehalten, die Grenze zu überschreiten. Richtig relevant sind die Vorwürfe gegen Schilling dadurch geworden, dass sie selbst und die Grünen so reagiert haben, wie sie es taten.
Es tut immer noch weh, das Video von Lena Schilling anzusehen, das sie am Pfingstwochenende auf Instagram gepostet hat. Eine Rechtfertigungsrede, in der Schilling manche Erklärungen wiederholt – darunter jene Behauptung, für die das Ehepaar Veronika und Sebastian Bohrn-Mena auf dem Zivilrechtsweg einen Widerruf erzwingen will, Termin für die erste Tagsatzung ist der 21. Juni. Und Schilling dementiert in dem Video auch Dinge, die ihr gar nicht vorgeworfen werden. Dem vorausgegangen sind wortreiche Entschuldigungen von Schilling selbst, aber auch von Grünen-Chef Werner Kogler – der hat sein unsägliches Gefurze bedauert. Nach eineinhalb Wochen Feuer am Dach.
Wenn Andreas Koller in den Salzburger Nachrichten von Berichterstattern, die nicht Bericht erstatten, sondern sich zu Akteuren in dieser Affäre machen, schreibt, dann ist das hart und gegenüber den RechercheurInnen des Standard ungerecht. Koller schreibt weiter: Im Grunde ist die Affäre Schilling nichts anderes als ein Ausdruck mangelnder Distanz. Jäger und Gejagte gehören demselben Biotop an, sie verkehren in derselben Social-Media-Blase, sie kennen einander viel zu lange und viel zu gut, sie nutzen den EU-Wahlkampf zur konfliktreichen Familienaufstellung. Mangelnde Distanz kann man so stehen lassen, das nennt sich Verhaberung und ist ein Grundübel der polit-medialen Szene in Österreich, wo Politiker schon Jung-Journalistinnen und -Journalisten das Du-Wort aufdrängen.
Vom Gefurze zum Shitstorm
Aber von Jägern und Gejagten zu sprechen, lässt den politischen Rahmen völlig außer acht: Die grüne Parteiführung hat mit dem Ziel der Stimmenmaximierung bei der Europa-Wahl ein Greenhorn als Spitzenkandidatin aufgestellt. Das haben viele als Zumutung empfunden, weil im Europäischen Parlament Erfahrung von Vorteil ist, doch das Wahlkampf-Kalkül – charismatische und rhetorisch wendige junge Frau versus vier eher fade ältere Herren – ist aufgegangen. Bis die Bombe geplatzt ist. Lena Schilling kann den Wahnsinn, in den sie da jetzt geschlittert ist, möglicherweise gut verdrängen und somit auch aushalten. Das ist im Sinne der Fürsorgepflicht, die die Grünen für sie haben, auch schwer zu hoffen.
Schilling hält jedenfalls bei ihren Auftritten tapfer dagegen, zuletzt gestern Abend bei einer Kandidaten-Runde des Kurier, wo es um die neuesten Vorwürfe gegen sie gegangen ist: Sie soll in ihrem Umfeld davon gesprochen haben, die grüne Partei zu hintergehen, wenn sie vom Bundeskongress erst einmal zur Spitzenkandidatin gekürt worden ist. Ein neuerlicher Super-GAU. Die Grünen haben einen Zeugen aus der SPÖ dagegen aufgeboten, der ein Gespräch relativiert, über das der Standard gar nicht berichtet hat. Es mögen dumme Witzeleien sein, die da überliefert werden, und womöglich werden Intrigen gesponnen und Rechnungen beglichen. Aber der Punkt ist: Das kann man niemandem mehr erklären, vor allem nicht eine Partei, die maßgeblich zur Demontage von Sebastian Kurz als Kanzler und ÖVP-Obmann beigetragen hat. Indem sie auf einer untadeligen Person an dessen Stelle bestand.
Untadelige Person anywhere?
Das politische Beben, das dieses Husarenstück der Grünen Spitze in der ÖVP aufgrund wirklich schwerwiegender Vorwürfe ausgelöst hat, ermöglichte es Werner Kogler und Sigrid Maurer, ihre Partei als Anker der Stabilität in chaotischen Zeiten zu verkaufen. Damit war es mit der Entscheidung für Lena Schilling als Spitzenkandidatin und der unprofessionellen Reaktion auf die Veröffentlichungen über sie vorbei. Stabil ist vorerst nur noch die Mauer, die gegen die Vorwürfe an Schilling errichtet worden ist. Bis zur Wahl wird sie wohl halten, die Parteispitze hofft immer noch auf einen Solidarisierungseffekt, obwohl erste Umfragen ein anderes Bild zeichnen. Wir werden das rocken, hat Sigrid Maurer in der Presse am Sonntag gesagt. Nach der Europawahl könnte die Mauer zu bröckeln beginnen.
ÖVP meanwhile im Ruanda-Style
Fatal für die Grünen ist, dass sich der Fall Schilling schon in den Nationalrats-Wahlkampf hineinzieht. Die Auseinandersetzung mit den Bohrn-Menas wird vor Gericht stattfinden, denn eine Einigung auf den vom ehemals befreundeten Ehepaar verlangten Widerruf – dass Schilling Behauptungen nicht aus Sorge um die Freundin getätigt, sondern frei erfunden habe – ist unmöglich. Damit würde Lena Schilling von sich aus eingestehen, dass sie in Dutzenden TV-Auftritten und Zeitungsinterviews die Unwahrheit gesagt hätte. Was das für Konsequenzen nach sich ziehen würde, muss man nicht eigens betonen. Vielleicht hat Klubchefin Maurer eine gewisse Ahnung – zumal sie im Presse-Interview auch betont hat, dass sie ihr eigenes politisches Schicksal nicht mit dem ihrer Erfindung Lena Schilling verknüpft sehe.
So taumelt die vermeintlich stabile Kraft durch das Super-Wahljahr, während der vermeintlich am Boden liegende Koalitionspartner ÖVP propagandistisch an Boden gewinnt. Mit einem gnadenlosen Negativ-Campaigning gegen die Kickl-FPÖ und staatsmännischen Einlagen im Ruanda-Style. Wenn Karl Nehammer für den britischen Premier Rishi Sunak in Wien den roten Teppich ausrollt und damit seinem Top-Wahlkampfthema Migration den letzten Schliff gibt.