Das Kickl-Playbook
Ich werde keine Personallisten der Freiheitlichen kontrollieren. Ich bin auch nicht die Nanny der FPÖ, sagt der amtierende ÖVP-Obmann Christian Stocker in einem der vielen Interviews, die er am Freitag gegeben hat, auf die Frage, ob jetzt bald rechtsextreme Identitäre in staatlichen Einrichtungen und Ministerbüros werken werden. Stocker hat bei der Gelegenheit auch schmerzbefreit klargestellt: Er würde den Vizekanzler unter Herbert Kickl als erstem FPÖ-Bundeskanzler machen. Die Frage der Nanny stellt sich eher nicht. Die ÖVP droht vielmehr zum Passagier zu werden.
Norbert Nemeth, langjähriger Klubdirektor der FPÖ im Parlament und zentrale Figur jetzt in den Verhandlungen mit der ÖVP, ist seit dem Wahlsieg der Freiheitlichen am 29. September auch Abgeordneter, er wäre der logische Klubobmann in einer blau-schwarzen Koalition. Nemeth steht auch dem sogenannten Attersee-Kreis vor, eine Denkwerkstatt unter der Ägide des oberösterreichischen FPÖ-Landesobmanns Manfred Haimbuchner. Bei seinem Antritt als Präsident des Attersee-Kreises 2017 hat Nemeth gefordert, die Hegemonie der 68-er zu brechen, es sei Zeit für die konservative Konterrevolution. Auch Haimbuchner vertritt das, im Kurier hat er 2018 gesagt: Mir geht es um einen Wertewandel, es geht mir um eine gesellschaftspolitisch konservative und wirtschaftlich liberale Revolution.
Die konservative Gegenrevolution
Damals war die FPÖ mit der Kurz-ÖVP in der Regierung, und Herbert Kickl war Innenminister. Im Interview mit der Tiroler Tageszeitung hat Kickl den Ball von Haimbuchner und Nemeth aufgenommen: Die 68-er versuchten im Namen des Fortschritts zerstörerisch zu wirken. Wenn ich nur an das Aushöhlen der staatlichen Identität oder der Identität des Familienverbundes denke. Diese Regierung steht für einen offensiven Gegenentwurf. Die Thesen der 68-er haben sich als falsch herausgestellt. Das Bedürfnis nach Orientierung, Geborgenheit und Heimat wird von uns wieder in ein positives Licht gerückt. Ein Jahr später war Ibiza, die Koalition platzte – doch das Bild, das ist geblieben. Kickl hat im Wahlkampf im Herbst sogar noch eine richtig dicke Schicht aufgetragen: nämlich sich selbst als Vater der Familie Österreich.
Identitäre sagen Metapolitik dazu
Identität, das ist ein programmatischer Kern der Freiheitlichen, da treffen sie sich mit den vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Identitären, die der FPÖ-Obmann als NGO von rechts verharmlost. Deren Galionsfigur Martin Sellner spricht in dem Zusammenhang von Metapolitik, im Gespräch mit dem Ö1-Medienmagazin #doublecheck hat Sellner das einmal so charakterisiert: Die Metapolitik bestimmt über Kinderbücher, über Lieder, über Radiosendungen, Talkshows, über den Krimi am Abend im Fernsehen. Was als moralisch gut gilt, was als fortschrittlich gilt. Sie bestimmt, worüber man reden darf, über die Bilder, aber vor allem die Narrative. Die Metapolitik erzählt das, was die Geschichte Österreichs ist, was die Identität des Landes ausmacht. Und die wird in Österreich bestimmt von einer Mehrheit an links und linksliberal Denkenden, Kreativen und Künstlern. Und ich finde, dass diese linke Medienpolitik in Österreich die gewählte Regierung in einer ideologischen Geiselhaft hält.
Die Medien in den Griff kriegen
Als möglicher Bundeskanzler wird Herbert Kickl mit großer Verve an der konservativen Gegenrevolution arbeiten, davon muss man ausgehen. Erster Ansatzpunkt werden die Medien sein, allen voran der ORF. Mit seinen Plänen, den öffentlichen-rechtlichen Rundfunk zu schwächen und gleichzeitig Propaganda-Kanäle auch finanziell mit staatlichen Förderungen zu stärken, die freundlich über die FPÖ berichten, haben Kickl & Co. nie hinter dem Berg gehalten. Die ÖVP als präsumtiver Koalitionspartner wiederum hat nicht erkennen lassen, dass sie dem etwas entgegenhalten will. Das wäre Teil eins des Playbooks für den Kampf gegen den Kulturmarxismus, wie das auf den FPÖ-nahen Kanälen gern bezeichnet wird.
Sie haben Gramsci rechts-gelesen
Wie es weitergehen könnte, zeigt die aktuelle Ausgabe des Attersee-Report – das ist die Zeitschrift des Nemeth-Kreises. Das Heft ist im Dezember erschienen, man ging noch von der Dreier-Koalition ÖVP, SPÖ und NEOS aus. Einen oberösterreichischen Gemeindepolitiker lässt man im Interview sagen, was Sache ist. Der marxistische Denker Antonio Gramsci gebe der FPÖ den Weg vor, heißt es da. Die Linken nahmen ihn beim Wort und setzten seine Worte fast eins zu eins um. Sie haben es fast vollbracht: Sie prägten unser Denken, unser Handeln, ja selbst unsere Sprache und drückten so der ganzen westlichen Welt ihren Stempel auf. (…) Aber was über links geht, das geht auch über rechts. Gramsci von rechts anzuwenden ist das Gegengift gegenüber dem heutigen Zeitgeist. Es gilt eine kulturelle Hegemonie zu schaffen, um dann die realpolitische Macht zu bewahren. Viktor Orbán hat es vorgezeigt. Ein Identitärer würde es nicht anders formulieren.
Symbolpolitik höhlt den Stein
Über Nacht wird das nicht gehen, wendet Stefan Weiss im Standard ein. Österreich verfüge über eine so reiche und vielfältige Kulturlandschaft, dass es viele Jahre dauern würde, sie zu demontieren. Eine wache Zivilgesellschaft, oft federführend von Künstlern getragen, nimmt zudem jeden Schritt der Gängelung wachsam wahr und meldet sich lautstark zu Wort. Und Stichwort Orbán: Mit den zarten Pflänzchen an liberalen Kulturträgern, die in ehemaligen Ostblockstaaten recht einfach auszutrocknen sind, ist der blühende Garten Österreich also nicht zu vergleichen. Es brauchte schon einen Flächenbrand. Was aber nicht unterschätzt werden dürfe, sei die Symbolpolitik. Ein Bundeskanzler, der sich nicht von den Identitären mit ihren Metapolitik-Phantasien abgrenzt, habe da ungeahnte Möglichkeiten: Kickl würde von Staatsbesuchen bis Festspielreden viel Raum bekommen, rhetorisch zu wirken. Ein Vorgeschmack war der umstrittene Empfang von Viktor Orbán im Parlament – kurz nach der Wahl des Freiheitlichen Walter Rosenkranz zum Nationalratspräsidenten.
Zerstörung der Christdemokratie
Die ÖVP stellte daraufhin eine parlamentarische Anfrage an Rosenkranz zu den Umständen des Besuchs. Beachtliche 75 Detailfragen sind ihnen dazu eingefallen. In einer Koalition mit der FPÖ wird das nicht mehr reichen. Herbert Kickl hat die ÖVP schon wissen lassen, wie er das mit der Augenhöhe sieht. Und was er und seinesgleichen über konservative Volksparteien denken, kann man im Attersee-Report nachlesen: Die Zerstörung der Christdemokratie war oft die Voraussetzung, aber auch der Nährboden für die nachfolgenden populistischen Kräfte. (…) Wir haben es in Italien erlebt, wo die Democrazia Cristiana in den 1990er-Jahren förmlich explodierte und dem jovialen Populisten Silvio Berlusconi den Weg frei machte. 30 Jahre später regiert in Rom eine sogenannte Postfaschistin. Ähnliche Entwicklungen gab es in den Niederlanden oder in Frankreich.
Schnelle Resultate als Lockstoff
Das bittere Fazit für die Volkspartei daraus zieht Gerald Mandlbauer in einer brillanten Analyse zum Status quo in den Oberösterreichischen Nachrichten. Herbert Kickl locke mit schnellen Resultaten. Doch hinter allem steht auch die Frage, ob und wie man sich das überhaupt angesichts der Budgetlage leisten kann und ob jemand diese Effekte mit dem wirtschaftlichen Flurschaden gegengerechnet hat, den ein Kanzler Kickl international bedeuten würde. Kickl und Orban in Brüssel als Veto-Gesellen? Festung Österreich anstelle europäischer Zusammenarbeit? Kickl als Zerstörer des “tiefen Staates“, Kickl und seine alternativen Medien – die Vor-Aufklärung als neuer Standortfaktor und damit eine noch höhere Stufe der Empörungskultur in der Politik? Radikalisierung und Spaltung, all das steht im Raum. Diesmal meinen es die Freiheitlichen mit dem Umbau ernst.
Dazu komme ein Führungsproblem der ÖVP auf vielen Ebenen, konstatiert Mandlbauer: Fraglich ist, wer es sich antut, in eine Regierung unter Kickl zu gehen. Und sind es dann solche Leute, die noch Statur genug haben, sich zu wehren, wenn es Richtung Umbau der Gesellschaft geht? Das nämlich hat Kickl vor, so viel ist gewiss, auch wenn er vorläufig Kreide schlucken wird. Das Playbook dazu liegt jedenfalls offen auf dem Tisch.