Die Frisuren sitzen
Mit Karl-Heinz Grasser ist der zweite Minister aus der Regierung Schüssel vom Beginn der Nuller-Jahre – der erste war Ernst Strasser – wegen Korruption rechtskräftig verurteilt und muss ins Gefängnis. Gleich nach Ostern werden Grasser und sein Kumpel Walter Meischberger ihre Haftstrafen antreten, der Rechtsstaat hat sich durchgesetzt. Die Frisur sitzt – passend zu Grassers legendärem Sager, er sei zu jung, zu intelligent und zu schön für die Neider dieser Welt – ist damit endgültig zur geflügelten Phrase geworden. Sie besagt auch: Er war ein Blender, jetzt hat er die Rechnung serviert bekommen.
Die Frisur sitzt auch bei Christian Stocker, es ist nur eine völlig andere. Auch im übertragenen Sinn. Sogar der Standard sei vom neuen ÖVP-Obmann als Bundeskanzler begeistert, stellt Oliver Pink in der Presse naserümpfend fest und zitiert: Stiernacken statt Slim Fit: Stocker ist kein Blender und kein Verführer, kein Möchtegern. Kein von Ehrgeiz getriebener Typ, der mit penibler und strategischer Planung nach oben gekommen ist. Stocker ist eingesprungen, als keiner sonst wollte oder konnte, und jetzt macht er an der Spitze dieser Koalition eine überraschend gute Figur. Soweit der Standard, das eigene Resümee von Presse-Mann Pink fällt so aus: Christian Stockers Stärke ist derzeit, dass er – auch aufgrund der Koalitionspartner – über das eigene Lager hinauswirkt, jedenfalls was die Sympathien betrifft.
Die neue Liebe zum Unprätentiösen
Tatsächlich überschlagen sich die Kommentatoren, die durch die Bank eine neue Liebe zum Unprätentiösen entdeckt haben. Der Richter Oliver Scheiber hat SPÖ-Hintergrund und im Falter einen ziemlich hoffnungsfrohen Gastkommentar geschrieben: Österreich hat eine neue Regierung, mit einem respektablen Programm und starken Persönlichkeiten. Das ist, in einer Phase, in der weltweit Demokratien kippen und autoritäre Bewegungen an die Macht kommen, ein kleines Wunder. Die Bildung dieser Regierung der Mitte habe dem Land eine Atempause verschafft, die Scheiber auch als Auftrag sieht: In der weltweiten Demokratiekrise erhält Österreich die Chance, das System der checks and balances, also der wechselseitigen Kontrolle staatlicher Institutionen und Akteure, zu verbessern.
Chance für die Checks & Balances
Scheiber ist nicht blauäugig, er kennt die Isolierschichten in den demokratischen Strukturen und benennt auch die Reform-Notwendigkeiten: Parlamentarismus, Verfassungsreform, Unabhängigkeit der Medien, Zugang zur Justiz, transparente Postenvergaben, breitere Bürgerbeteiligung. Mit den Grünen, die ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit in solchen Fragen betonen, gäbe es die Zweidrittelmehrheit für substanzielle Reformen. Beim Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus und den Problemen durch den Vorsitz von FPÖ-Mann Walter Rosenkranz gehen die vier Parteien diesen Weg erstmals gemeinsam, die Befugnisse des Nationalratspräsidenten werden – sagen wir – adaptiert. In Sachen ORF-Gremienreform hat die Harmonie schon wieder ein Ende. Die Grünen bekamen den Antrag dazu knapp vor der Ausschuss-Sitzung – das kommt vor, aber es bleibt ein Affront.
ORF-Gremienreform erster Sündenfall
Auch inhaltlich: die Koalition beschließt eine Minimalreparatur, wie sie der Verfassungsgerichtshof vorgegeben hat, hält aber an den Strukturen von Stiftungsrat und Publikumsrat fest. Damit werden auch die sogenannten Freundeskreise der Parteien im Stiftungsrat bleiben, obwohl sie nachgerade der Beweis für parteipolitischen Einfluss und entsprechende Interessen in den ORF-Gremien sind. Eine weitergehende Reform hat Medienminister Andreas Babler von der SPÖ abgesagt, obwohl sie im noch taufrischen Regierungsprogramm steht. Sehr kurzsichtig sei das, stellt Johannes Huber in seinem Blog fest. Es würde jetzt auf eine grundlegende Reform und Zurückdrängung der Parteipolitik ankommen: Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie lange diese Regierung hält. Man kann nicht ausschließen, dass die nächste von Herbert Kickl geführt wird, der mit seinen Plänen ernstmacht und den ORF zu einem Grundfunk zerschlägt.
Neue Regierung auf alten Gleisen
Noch drei Beispiele dafür, dass diese Regierung mit ihrem unprätentiösen Kanzler ein respektables Programm und durchaus auch starke Persönlichkeiten aufweisen mag, aber mitunter auf den alten Gleisen unterwegs ist. Stichwort Sicherheitspolitik: Vor zwanzig Jahren hat ÖVP-Verteidigungsminister Günther Platter aus rein populistischen Gründen die verpflichtenden Truppenübungen nach dem Grundwehrdienst abgeschafft, die militärische Ausbildung der Rekruten ist damit wertlos geworden. Das bestätigt jeder Militär-Experte, und weil wir uns jetzt anschicken, viele Milliarden ins Bundesheer zu stecken, kann die aktuelle ÖVP-Verteidigungsministerin Klaudia Tanner das nicht mehr ignorieren. Was tut sie? Sie setzt eine Expertenkommission ein, gibt der FPÖ die Schuld am ÖVP-Versagen und lässt völlig offen, wohin die Reise geht. Der gelernte Österreicher kann es sich ausrechnen: ins Nirgendwo.
Tricks bei Wehrdienst, Budget & Asyl
Beim Budget-Desaster, das ÖVP und Grüne hinterlassen haben, wird ein wochenlanger Tanz um ein EU-Defizitverfahren aufgeführt – namentlich von der ÖVP, die als Finanzressort-Verantwortliche der letzten Jahrzehnte versucht, die Lage schönzureden. Dem neuen SPÖ-Finanzminister Markus Marterbauer bleibt jetzt, nachdem die Misere in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar wird, nichts anderes übrig, als das Defizitverfahren schönzureden. Und sein Vorgänger Magnus Brunner schickt vermutlich jeden Abend Stoßgebete gen Himmel, weil er in Brüssel EU-Kommissar für Migration sein darf und nicht dauernd unangenehme Fragen zum österreichischen Bundeshaushalt beantworten muss. Und Stichwort Migration: da trickst die Koalition rechtlich beim Stopp des Familiennachzugs so gut es halt geht. Sie hofft hoffentlich nicht, dass es zur Not der Magnus Brunner in Brüssel schon richten wird.
Das Potenzial des plötzlichen Kanzlers
Die Frisur sitzt. Der Fotograf Helmut Graf hat ein großartiges Bild von Christian Stocker gemacht, im Profil vor Andreas Babler sitzend. Die Haarpracht des Vizekanzlers wird zum Irokesen des Bundeskanzlers. Es ist das Sinnbild dessen, was Oliver Scheiber textlich in Stocker hineininterpretiert. Der unprätentiöse Anwalt aus Wiener Neustadt habe Potenzial: Die unaufgeregte Führung Stockers gibt der ÖVP die Chance, diese Periode auch zur Rückbesinnung auf ihre traditionellen Stärken zu nutzen, zu einer konstruktiven Europapolitik zurückzufinden und die Rolle der Sozialpartnerschaft neu wertzuschätzen. Oliver Pink in der Presse ist sich da schon im Titel seiner eingangs zitierten Analyse nicht sicher: Gerade noch türkis, schon wieder schwarz: Wie tickt die Stocker-ÖVP?
Die Blender & ihre willigen Opfer
Am Samstag ist jedenfalls Parteitag, und Christian Stocker wird in seiner Heimatstadt zum Bundesparteiobmann der ÖVP gewählt. Damit sei nicht zu rechnen gewesen, erinnert Pink an die dramatischen Tage Anfang Jänner, als der Versuch einer Dreierkoalition gescheitert und Karl Nehammer als ÖVP-Chef zurückgetreten war. Sebastian Kurz wäre zwar bereitgestanden, aber man wollte ihn nicht. Allen voran die Achse um die Landeshauptleute Thomas Stelzer und Anton Mattle verhinderte ihn. Niederösterreichs Landeshauptfrau, Johanna Mikl-Leitner, wäre dem Vernehmen nach dafür zu haben gewesen. Hier schließt sich der Kreis zu Karl-Heinz Grasser: Den hat 2007 das Tiroler Urgestein Andreas Khol als ÖVP-Vizekanzler verhindert. Dass immer noch auch maßgebliche Leute in der ÖVP dem anderen Blender nachweinen, zeigt: Bis dem Stocker seine Frisur richtig sitzt, braucht es mehr als ein fotografisches Auge.