Über Staatsmänner
Im Akademietheater sind Victor Klemperer, Hannah Arendt & Erich Kästner als Mahner beschworen worden, ein Zitat von Viktor Orbán aus 2014 hat dem Abend das Motto gegeben: Das Wesen der Zukunft ist folgendes: Alles kann passieren. In einer Buchhandlung am Graben hat der Vizekanzler den Beweis angetreten, was alles passieren kann: Er hat eine Biographie über seine Person signiert, während ein Großaufgebot der Polizei ein Häuflein Demonstranten in Schach hielt. Der Bundeskanzler hingegen hat eine starke Antisemitismus-Konferenz gegeben und ein bemerkenswertes Interview. Die Republik im November.
Die empirische Faktenlage sei eindeutig, spricht Sebastian Kurz im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung einmal so richtig Klartext: Wir sind ein Land mit einer sehr hohen Zuwanderung und somit ein Einwanderungsland. Gleichzeitig hat sich unsere Regierung das Ziel gesetzt, die Zuwanderung zu steuern. Qualifizierte Zuwanderung nach Österreich ist notwendig und sinnvoll. Wir müssen aber selbst entscheiden können, wer zuwandern darf und wer nicht. Wenn man so will, eine Ohrfeige für den Koalitionspartner FPÖ, der das mit dem Einwanderungsland eher nicht unterschreiben wird. Zuletzt hat sich vielmehr Innenminister Herbert Kickl in Zusammenhang mit dem UN-Migrationspakt genau gegenteilig zu dieser Frage geäußert.
Ideologisches Zauberwort Einwanderungsland
Eine Position, wie sie Ungarns Premier seit Jahren mit noch viel mehr Verve vertritt. Auf der Akademie-Bühne ist Orbán dazu so zitiert worden: Das Land, das demographisch im Niedergang begriffen ist und nicht einmal dazu in der Lage ist, sich selbst biologisch aufrechtzuerhalten, ist vielleicht ein Land, das auch gar nicht benötigt wird. Solch ein Land verschwindet. Ein Zitat aus 2017. Und heuer im September, als es im Europa-Parlament in Straßburg um das Rechtsstaatlichkeits-Verfahren gegen seine Regierung gegangen ist, da hat Orbán gesagt: Reden wir gerade heraus. Man will Ungarn verurteilen, weil die ungarischen Menschen beschlossen haben, dass unsere Heimat zu keinem Einwanderungsland wird. Auch das ein Zitat aus dem Polittheater.
Wunsch & Notwendigkeit der Abgrenzung
Kurz ist damals schon auf Distanz gegangen. FPÖ-Chef Strache hingegen hat Orbán das Angebot gemacht, auf EU-Ebene enger zusammenzuarbeiten. Natürlich wird nicht alles so heiß gegessen, wie gekocht. Die Europäische Volkspartei wirft die ungarische Fidesz nicht hinaus, und Orbán hat Kurz seine Positionierung verziehen. Er ist ein junger Mensch, geriet in eine verworrene Debatte, was auch nicht leicht ist. Auch die Freiheitlichen werden Kurz seine Positionierung im NZZ-Interview verzeihen. Man sei schließlich keine Einheitspartei, ist ein bewährtes Argument für solche Fälle. Die neue Klarheit könnte weniger mit dem dringenden Wunsch nach Abgrenzung als mit der Notwendigkeit der Abgrenzung angesichts der nahen Europa-Wahl zusammenhängen.
Wir gegen Brüssel, das funktioniert immer
Es ist vor diesem Horizont, dass die Regierung in Rom im Streit um Haushalt und Schuldenabbau die Konfrontation mit Brüssel sucht. Eine Eskalation wäre willkommene Wahlkampfmunition. “Wir gegen Brüssel” funktioniert immer. Das schreibt Stephan Israel vom Schweizer Tagesanzeiger, und man kann es gut auf die österreichische Situation umlegen. Was für Salvini das Budget, ist für die Ungarn das EU-Verfahren und für die österreichische Regierung die Indexierung der Familienbeihilfe, die von praktisch allen Rechtsexperten als völlig unvereinbar mit EU-Recht eingestuft wird. Schwarz-Blau macht es trotzdem, und man fragt sich, ob die Europa-Partei ÖVP sich davon auch etwas verspricht oder nur dem Koalitionspartner den Gefallen tut.
#Österreich hat eine besondere historische Verantwortung im Kampf gegen #Antisemitismus und dabei, dass aus einem „Nie vergessen“ ein „Nie wieder“ wird. Es wurde zu lange weggeschaut und Österreich hat sich zu lange nicht klar zu seiner Verantwortung bekannt.
— Sebastian Kurz (@sebastiankurz) November 21, 2018
Israel bejubelt Kurz & FPÖ weiter unten durch
Andernorts bemüht sich Sebastian Kurz, das Standing Österreichs zu verbessern. In Wien hat eine vielbeachtete und hochgelobte High Level Conference zum Kampf gegen den Antisemitismus stattgefunden. Der Kanzler will sich noch im österreichischen EU-Vorsitz um eine einheitliche Definition von Antisemitismus bemühen, ein schwieriges Unterfangen. Es soll beim Gipfel im Dezember gelingen, und die Bemühungen von Kurz sind auf jüdischer Seite mit großem Wohlwollen aufgenommen worden. Das ist umso wichtiger und erfreulicher, als die FPÖ bei den jüdischen Organisationen ebenso wie beim Staat Israel weiter unten durch ist. Dem jungen österreichischen Bundeskanzler aber ist Israels Premier Benjamin Netanyahu nachgerade freundschaftlich zugetan.
Kampf gegen den Antisemitismus erfunden
Dahinter lauert aber auch Unbehagen. Wenn Kurz so tut, als hätte er den Kampf gegen den Antisemitismus erfunden. Oder wenn Kurz auch unverhältnismäßige Kritik am Staat Israel – was Netanyahu freut, weil es so unbestimmt ist – zum Antisemitismus zählt und bei der Konferenz auch auffallend oft betont hat, dass Antizionismus eine Spielart von Antisemitismus sei. Selbstverständlich hat auch der muslimische Antisemitismus als Folge ungezügelter Migration nach Europa in den Ausführungen des Kanzlers nicht gefehlt. Was ihm prominente Berichterstattung genau über diese Passage in den russischen Propagandamedien eingebracht hat. Zur FPÖ und derem schwer gestörten Verhältnis zum Judentum fand Sebastian Kurz in diesen Tagen kein einziges Wort.
Signierstunde mit lückenhafter Biographie
Heinz-Christian Strache hat ja in seiner Rede auf dem Akademikerball im Jänner klare Worte zum Antisemitismus gefunden, doch dann kam die Sache mit dem Liederbuch und warf kein gutes Licht auf die Burschenschafter, die in der Regierungspartei FPÖ nun einmal den Ton angeben. Diese Woche ist eine Strache-Biographie erschienen, die der Vizekanzler höchstpersönlich und unter ziemlich übertriebenem Polizeischutz in einer Buchhandlung in der Wiener Innenstadt vorgestellt und signiert hat. Vom Rebell zum Staatsmann heißt das Strache freundlich gesonnene Werk, verfasst von einem freiheitlichen Wiener Gemeinderat. Freilich ist die Biographie unvollständig, prägende Jugendjahre Straches in den Kreisen von Neonazis wurden ausgespart. Soviel zur Glaubwürdigkeit, die Vertreter der jüdischen Gemeinschaft bei der FPÖ vermissen.
Reformarbeit mit dem Sinn fürs Grobe
Strache hat ja immer behauptet, dass er nur Paintball gespielt und keine Wehrsport-Übungen absolviert habe. Heute spielt Strache mit seinem Smartphone, verschickt SMS-Irrläufer und postet auf Facebook seltsame Bilder von Weihnachtsständen in der Fußgängerzone in Wien-Favoriten. Daham statt Islam wieder einmal. Die Regierung entsorgt indessen ohne viel Aufhebens die einzigen Reformansätze, die es im Finanzausgleichsgesetz seit Jahrzehnten gegeben hat. Rückwirkend. Und mit einem schlichten Abänderungsantrag hat Schwarz-Blau im Nationalrat schnell einmal das Legalitätsprinzip in Frage gestellt, wonach die Verwaltung nur auf Basis von Gesetzen handeln darf. Dafür darf man ab Jänner mit Schalldämpfer auf die Jagd gehen, wenn das vom FPÖ-Innenminister adaptierte Waffengesetz in Kraft getreten ist.
Übertriebene und berechtigte Sorgen
Ein Potpourri, das bei manchen Oppositionspolitikern die Erinnerung an das Jahr 1933 – als das Parlament ausgeschaltet wurde – wach werden lässt. Um das übertrieben zu finden, muss man nicht Christian Ortner heißen. Dieser Betreiber eines sogenannten alternativen Mediums und Gastkommentator der bürgerlichen Tageszeitung Die Presse hat über die Regierung geschrieben: Erstaunlich ist, wie wenig sie im Grunde Systeme auswechselt, die auszuwechseln durchaus im Interesse der Republik sein könnte. Soll heißen: da geht noch viel. Gemeint sind der ORF, staatliche Firmenbeteiligungen und natürlich die Kammern. – Später wird keiner geglaubt haben, wozu die schon imstande gewesen sein werden. Und niemand wird gewollt haben, was alles noch passieren konnte. Im Akademietheater fällt der Vorhang, man ist betroffen & viele Fragen offen.