Vor der Auferstehung
Es ist ein urzeitlicher Instinkt bei einem unsichtbaren Feind, ihn überall zu vermuten. Man ist geneigt, alle Mitmenschen als Bedrohung und potenzielle Angreifer zu sehen. Anders als während der Epidemien des 14. und 17. Jahrhunderts haben wir heute die moderne Medizin an unserer Seite. Glaubt mir, das ist nicht wenig. Aus dem bemerkenswerten Brief eines Mailänder Schulleiters an seine Schüler, die alle zu Hause sind. Wie bei uns jetzt auch. Um die Tragweite der Corona-Virus-Pandemie zu erklären, bemüht der Direktor den italienischen Klassiker Die Verlobten von Alessandro Manzoni, der eine berühmte literarische Pest-Darstellung verfasst hat. Sebastian Kurz versucht es auf seine Art.
Die Italiener sind uns zwei Wochen voraus, und der bedächtige Gesundheitsminister Rudolf Anschober findet für die italienischen Verhältnisse jetzt immer öfter drastische Worte: Wenn man sich die Blogs italienischer Ärzte ansieht, liest sich das teils wie aus einer Kriegsberichterstattung. Die Strukturen sind dort teils am Zusammenbrechen oder bereits zusammengebrochen. Hier ein regelrecht dystopischer Bericht der Berliner taz dazu aus der Lombardei. Nicht alle Österreicher hätten die Tragweite dessen, was das Virus anrichtet, schon verstanden, sagt auch Sebastian Kurz, der als Krisenkanzler gemeinsam mit Anschober eine hervorragende Figur macht.
Notfalls wird unter Quarantäne regiert
Das Virus wird Krankheit, Leid und Tod für viele Menschen in unserem Land bedeuten, sagt Kurz – und auf die Frage, was passiert, wenn er selbst, eine Ministerin oder sonst jemand aus dem Team angesteckt wird: Es gibt Notfallpläne, dass die zuständigen Regierungsmitglieder und der gesamte Einsatzstab ihre Arbeit isoliert, aber unter voller Handlungsfähigkeit hier im Kanzleramt fortsetzen. Die Regierung unter Quarantäne. Deutlicher geht es nicht.
Niemand in diesem Land hat so eine Situation je zuvor erlebt. Die Spanische Grippe ist hundert Jahre her, es herrschten andere Rahmenbedingungen, aber der Versuch einer Eindämmung des Virus war auch dazumal das Gebot der Stunde. In Anbetracht der Unerfahrenheit macht die erst sehr kurz amtierende Regierung vor allem kommunikativ einen guten Job. Wer Message Control kann, der kann auch Krisenkommunikation, möchte man sagen. Einschränkungen der persönlichen Freiheit, ein Schritt nach dem anderen, werden behutsam verkündet auf den schon täglichen Pressekonferenzen.
Gutes Framing für Social Distancing
Und es wird ein Framing verwendet, das eigentlich jeder verstehen sollte: Wir schützen die Verletzlichsten unter uns. Doch es verstehen nicht alle. In der Schilderung Manzonis war es eine heilige Prozession, die der Pest Einhalt gebieten sollte, sie im Gegenteil aber befeuerte. Bei uns sind es die großen Runden, die sich beim Achtel after work über die aufregenden Regierungs-Maßnahmen zum Social Distancing austauschen.
Message Control in biblischen Ausmaßen
Dabei ist der Kanzler noch bemüht, dem Ganzen eine überschaubare Perspektive zu geben. Wir müssen Österreich auf den Notbetrieb reduzieren. Nicht auf Dauer, aber für einige Wochen, damit wir nach Ostern wirtschaftlich, gesellschaftlich und sozial wieder auferstehen können. Dass die bemerkenswerte Kombination Ostern und Auferstehung in Zusammenhang mit Eindämmungsmaßnahmen wegen Pandemie dem talentierten Kommunikator Sebastian Kurz nur passiert ist, kann ausgeschlossen werden. Die Message Control beginnt biblische Ausmaße anzunehmen, und wer das kritisiert, läuft aktuell Gefahr, des Vaterlandsverrätertums bezichtigt zu werden.
Kontraproduktive Journalisten-Fragen
Geschweige denn, man stellte die Maßnahmen der Regierung in Frage. Ein Vier-Milliarden-Fonds für die Wirtschaft, das Nulldefizit ist für heuer abgesagt, das ist dann doch schnell gegangen. Auch die unmittelbaren Schritte zur Eindämmung des Virus könnten sich sehen lassen, sagt der Kanzler: Wir sind sicherlich unter den drei Ländern in Europa, die am schnellsten reagieren. Dass es immer noch zu wenige Schnelltests gibt und dass generell zu wenig getestet worden sein könnte, wird nicht hinterfragt. Es ist nationaler Schulterschluss angesagt, selbst FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl agiert für seine Verhältnisse gesittet. Lästige Fragen von politischen Journalisten werden nicht gern gehört. Der herausragende Berliner Virologe Christian Drosten hat die Fragen politischer Journalisten in Zeiten des Corona-Virus gar als kontraproduktiv bezeichnet.
Die Virenschleuder im Paznauntal
Die Frage nach dem, was da in Tirol – konkret in Ischgl im Paznauntal – abgelaufen ist oder eben nicht, die muss schon erlaubt sein. Ein Spiegel-Autor war dort in Galtür auf Urlaub und schreibt: Im benachbarten Ischgl, eines der größten Skigebiete der Alpen, habe es in der Aprés-Ski-Bar Kitzloch einen Corona-Fall gegeben. Der Wirt habe alle Angestellten in Quarantäne geschickt, die Bar desinfiziert und einen Tag später selbst am Tresen gestanden, damit der Betrieb weitergehe. Die Folge: in Skandinavien viele hundert Infizierte, dort wird von einer Skiurlaubs-Epidemie gesprochen. Norwegen hat aktuell 709 Corona-Fälle, davon haben sich 459 in Tirol angesteckt. Auch Isländern ist es so ergangen, Reykjavik hat Ischgl schon am 5. März als Risikogebiet definiert. Die Quarantäne für die Region ist erst zehn Tage später erlassen worden, seitens der Tiroler Landessanitätsdirektion hieß es noch am 8. März: Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich.
Maßnahmengesetz zu den Virus-Folgen
Das wirft Fragen auf, die Sebastian Kurz seinem Parteifreund Landeshauptmann Günther Platter nicht ersparen darf. Wo wir doch nach seinen Aussagen unter den drei Ländern in Europa sind, die am schnellsten reagieren. Das sehen die Norweger, die Schweden, die Dänen und die Isländer wohl ein bisschen anders. Momentan zählt aber tatsächlich mehr, dass die Maßnahmen der Regierung, die Nationalrat und Bundesrat in einer Sondersitzung am Sonntag gesetzlich absichern, ab Montag umgesetzt werden. Welchen Sinn sie haben, das haben griechische Ärzte mit diesem im Netz verbreiteten Bild sehr schön ausgedrückt: The one who stayed away saved all the rest.
Alessandro Manzoni beschreibt in Die Verlobten, wie den politisch Verantwortlichen im Mailand des 17. Jahrhunderts der Kampf gegen die Pest über den Kopf gewachsen sei und sie sich daraufhin hilfesuchend an den Klerus gewandt hätten. Das totale Chaos – wenn man bedenkt, daß diejenigen, die einem so wichtigen Amt vorzustehen hatten, nichts anderes zu tun wussten, als es niederzulegen; daß sie gezwungen waren, es Männern zu übergeben, die dieser Anstalt am fernsten standen. Übernommen hat Pater Felice Casali – ein bejahrter Mann, der im Rufe großer Menschenliebe,Tätigkeit, Sanftmut und Seelenstärke stand, und der sich in der Folge auch bewährte. Wir haben zum Glück Sebastian Kurz und Rudolf Anschober, die der Kirche die Aussetzung der Gottesdienste abgerungen haben. Da klappt es dann bestimmt auch mit der Auferstehung.