Passagiere voraus
Ein halbes Dutzend Zeitungsinterviews mit Wolfgang Schüssel zu seinem 75-er und eine bemerkenswerte Aussage: Bitte, ich habe das nie ganz verstanden, normalerweise ist ja der Chauffeur nicht derjenige, der die Gestaltungsmacht hat. (…) Auch Jörg Haider hat sicher nicht meine Politik gesteuert, sondern nur das Lenkrad. Es ging um das Foto, das Schüssel als Beifahrer mit Haider in dessen blauen Porsche zeigt. Ein ikonographisches Bild, das den Altkanzler offenbar bis heute nicht kalt lässt. Wer gibt schon gern zu, Passagier zu sein, wenn er auf der Kommandobrücke steht. Ein Schicksal, das Schüssels Erben mit ihm teilen.
Das Land zusperren, das haben sie drauf gehabt. Viel länger als notwendig ist alles zugesperrt geblieben. Und jetzt kann es der Regierung nicht schnell genug gehen. Hubert Patterer vergleicht es mit den Versuchen der Titanic-Besatzung, dem Eisberg doch noch auszuweichen: Die Regierung, die im Stundentakt an allen Ecken und Enden die Druckventile aufriss, muss da draußen eine Gefahr gewittert haben, eine dunkle Ahnung, dass sie mit ihrem Dampfer am Eisberg der brüchigen Stimmungslage nicht mehr unbeschadet vorbeischrammen würde. Daher die Vollbremsung und der pflingstliche Shutdown aller Verbote, koste es, was es wolle. Ein richtig böses Bild.
Die dunkle Ahnung des Budget-Eisbergs
Die dunkle Ahnung wird die Regierungsfraktionen wohl auch im Zuge der Beratungen über das Budget ereilt haben, wo sie im Parlament noch schnell eine Vorlage durchboxen wollten, die allen Gepflogenheiten und jeglicher Budgetwahrheit Hohn gesprochen hat. Ein Nationalrat im Krisenmodus hätte das vielleicht noch geschluckt, aber das ist jetzt vorbei, wie Gernot Blümel als Finanzminister und die Fraktionschefs von ÖVP und Grünen als seine verlängerten Arme im Parlament zur Kenntnis nehmen mussten. Also: Kommando retour, ein Abänderungsantrag in letzter Minute – und darin ein blamabler Formfehler, der gleichzeitig symbolhaft aufzeigte, wie die Regierung Kurz zu einem wirksamen Parlamentarismus steht. Milde gesagt: sie hält die Abstandsregel ein.
Corinna. Das ist ein Fanal der Dauer-Missachtung des Parlamentarismus durch eine marketing-getriebene Kanzler-Demokratie. Nicht mehr und nicht weniger. Das lohnt schon ein paar Stunden Aufregung. Meine Meinung.
— Stefan Kappacher (@KappacherS) May 28, 2020
Almosen, um den Eisberg schmelzen zu lassen
Die Familienministerin wiederum versucht den Eisberg der brüchigen Stimmungslage mit Almosen für die Bevölkerung zum Schmelzen zu bringen. Christine Aschbacher, die auch die verantwortliche Ministerin für den dramatisch angespannten Arbeitsmarkt ist, hat sich Zeit für ein kleines Foto-Shooting genommen und sich beim Geldverteilen an eine in große Not geratene Familie ablichten lassen. Auf dem Bild drückt die Ministerin allen Ernstes einem Baby ein, zwei Hundert-Euro-Scheine in die Hand. Ein Hausfotograf des Bundeskanzleramtes hat das Bild gemacht, es landet bei der Kronenzeitung, und die veröffentlicht das, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Ministerin ließ es sich nicht nehmen, einem betroffenen Ehepaar mit zwei Kindern das Geld selbst zu übergeben, heißt es in dem nicht als Werbung gekennzeichneten Text.
Der Kammerherr im Gourmet-Magazin
Jörg Haider, der Großmeister solcher Aktionen, dreht sich im Grab um. Der hat seine Hunderter zum Teuerungsausgleich bombastischer unters Volk gebracht. Und so ein Fauxpas wie dem Wirtschaftskammer-Präsidenten wäre dem Porsche-Fahrer Haider sowieso nie passiert. Harald Mahrer posiert im Gourmet-Magazin von Kurz-Freund Wolfgang Rosam mit einer Magnum-Flasche besten Weines in der Hand vor Regalen voller anderer guter Weine und ruft die Unternehmer zum Genießen auf. Wohlgemerkt seine Klientel, die zu großen Teilen immer noch auf eine angemessene Entschädigung für das behördliche Verbot ihrer Geschäftstätigkeit warten. Das hat sogar die treue Sprecherin von Wolfgang Schüssel eher entsetzt kommentiert:
Uiiii, das wird bei so manchen Corona-betroffenen KMUs wohl nicht so freudig landen. Falscher Zeitpunkt, falsche Botschaft, falsches Medium. Das ist wohl das Feingefühl verlorengegangen https://t.co/M8CkRlbC7T
— Heidi Glueck (@GlueckHeidi) May 31, 2020
Der Kanzler und die Falsch-Ausfüller
Übertroffen wurde Mahrer nur noch von Sebastian Kurz, dem sein unmittelbarer Vorgänger in der Reihe der ÖVP-Kanzler in den Geburtstagsinterviews gerade noch bescheinigt hat, quasi alles richtig gemacht zu haben. Kurz war bei Claudia Stöckl auf Ö3. Frühstück bei mir. Auf den wiederholten Vorhalt, dass viele Kleinunternehmer und EPUs verzweifelt auf das Geld warten würden, das ihnen zustehe, sagte der Kanzler: Wenn natürlich der Name auf dem Formular falsch ausgefüllt war oder wenn das ein Einkommen war, das es zwar gegeben hat, aber das vielleicht niemals versteuert wurde und auch nirgends aufscheint, dann kommt es zu einem anderen Ergebnis. Ein ziemlicher Affront, wie viele finden.
Wenn das eigene Wirken Trost spendet
Claudia Stöckl hat Sebastian Kurz dann noch gefragt, wie sehr ihm die Hilferufe der Wirtschaftstreibenden nahegingen, und seine Antwort war: Was glaub ich Trost spenden kann, was mir manchmal hilft, wenn der Druck irrsinnig groß wird, ist: einen Moment innezuhalten und nachzudenken, wie die Situation in anderen Teilen der Welt ist. Und das ist dann ein Moment, wo man doch viel Dankbarkeit entwickelt, dass man diese Corona-Krise, wenn man sie schon erleben muss, in Österreich erleben darf. Mehr Kurz geht nur schwer. Der selbsternannte Corona-Musterschüler findet Trost in seinem eigenen Wirken, und wir sollen dankbar sein, dass wir das Virus unter ihm erleben dürfen.
https://twitter.com/michelreimon/status/1267122416695812097?s=20
Ibiza-Denken in Theorie und Privat-Praxis
Trost, aber eher nicht aus dem eigenen Wirken, wird der ÖVP-Obmann womöglich auch brauchen, wenn diese Woche der Ibiza-Untersuchungsausschuss startet. Die Handy-Daten von Kurzens erstem Vizekanzler Heinz-Christian Strache sind eine Goldgrube für Ermittler und U-Ausschuss, ob es um den Postenschacher in den Casinos geht oder um die jetzt bekanntgewordenen Hintergründe, wie Strache einem Freund zu Millionen aus Sozialversicherungsgeldern für dessen Privatklinik verholfen hat. Immer alles unter Zutun der ÖVP, die FPÖ hat ja in den eineinhalb Jahren bis zur Ibiza-Bombe nicht allein regiert.
Grüne Passagiere drängen auf die Brücke
Man darf jetzt gespannt sein, wie die Grünen in der Causa reagieren werden. Die Fraktionsführerin im Untersuchungsausschuss hat zumindest Schonungslosigkeit anklingen lassen. Die Frage ist nur immer: gegenüber wem. Und erste kritische Töne Richtung ÖVP, etwa von Vizekanzler Werner Kogler hier oder hier von Klubchefin Sigrid Maurer, könnten ein neues Selbstbewusstsein der Grünen in der Regierung ankündigen. Die Entmachtung von Christian Pilnacek durch Justizministerin Alma Zadic war schon einmal ein ziemlich starker Anfang. Passagiere wären sie lange genug gewesen.
Ein Gedanke zu „Passagiere voraus“
Es ist wirklich unglaublich, wie ein der Unabhängigkeit verpflichteter Journalist (ORF) laufend nur gegen eine bestimmte Gruppe (Türkise-ÖVP) regelmäßig polemisiert.