Flasche leer
Die “Krone” hat den ersten Slot, da ist Sebastian Kurz noch ganz frisch. Vor sich hat der Kanzler wie immer ein “Cola Zero” stehen. Schreibt uns die Kronenzeitung. Die Heute-Zeitung ist am späten Nachmittag dran, und die Klimaanlage läuft längst auf Hochtouren. Die vielen Besucher, die auf ein Interview vorbeigekommen sind, haben das dunkel getäfelte Kreisky-Zimmer aufgeheizt, berichtet der Standard. Für die weniger wichtigen Qualitätszeitungen hat es Sammeltermine gegeben, deshalb muss man nur hier und hier verlinken. Unzweifelhaft ist der Kanzler jetzt aus dem Sommer zurück. Seine Botschaften sind teils zum Verzweifeln.
Der deutsche Historiker Jan Gerber hat in der Neuen Zürcher Zeitung eine interessante These entwickelt. Die Populisten seien keine vorübergehende Erscheinung, sondern die Prototypen eines neuen Parteiensystems. Gerber schreibt: Populismus ist weniger ein politisches Programm als ein Politikstil. Wo die etablierten Parteien mit Sachzwang argumentieren, setzt er auf Emotionen und Affekte. Stimmungsabhängige Ad-hoc-Entscheidungen treten an die Stelle langwieriger Aushandlungsprozesse, fehlende Programmatik wird durch Improvisation ersetzt. Das komme den Veränderungen in der heutigen Gesellschaft stark entgegen. Etablierte Parteien würden sich möglicherweise populistisch ummodeln, um zu überleben. Sebastian Kurz ist mit der Bundes-ÖVP einen Schritt weiter. Er hat mit diesem Modell schon zwei Wahlen gewonnen.
Ad-hoc-Entscheidungen nach Stimmung
Emotionen und Affekte. Wenn sich Kurz nach einer langen Phase der Angstpolitik in Sachen Corona plötzlich hinstellt und Licht am Ende des Tunnels sieht, gar ein Ende der Pandemie-Entbehrungen nach einem noch einmal entbehrungsreichen Herbst & Winter prophezeit, dann ist das nicht seiner langen Liste von Gesprächen mit honorigen Leuten wie dem Historiker Yuval Harari, dem Genetiker Josef Penninger oder Google-Chef Eric Schmidt geschuldet. Sondern der Stimmung in der Bevölkerung, die die Kurz-ÖVP mit großer Regelmäßigkeit erheben lässt. Und da haben Gesundheitswissenschafter wie Martin Sprenger und Infektiologen wie Christoph Wenisch einen Punkt getroffen, wenn sie sagen, man müsse endlich das Positive sehen. Der ÖVP-Obmann hat ad hoc auf diese Stimmung reagiert. Jetzt also zur Abwechslung Licht in Sachen Corona.
Nicht alles so lichtvoll an der Kurz-Rede
Was nicht heißt, dass die anderen Ausführungen des Kanzlers im Reigen der vielen Interviews und in seiner als Erklärung mit anschließenden Journalistenfragen getarnten Rede zur Lage der Pandemie alle besonders lichtvoll gewesen wären. Kurz hat viele Ankündigungen einfach nur wiederholt, Aufträge an die zuständigen MinisterInnen verteilt in Punkten, die sie – Stichwort Arbeitsstiftung – schon längst erledigt haben sollten. Kurzens Bekenntnisse in Sachen Unterstützungspersonal für Brennpunktschulen und – jetzt aber wirklich – Tempo bei der Digitalisierung der Klassenzimmer – die hört man wohl, aber es fehlt einem schlicht der Glaube. Und bei Ankündigungen wie: Wir bauen eine Technische Universität in Linz! – schimmert halt leider die Parteipolitik durch. Oberösterreich wählt im kommenden Jahr, von der neuen TU hat selbst die Rektorenchefin nichts gewusst, und der Sprecher der drei schon bestehenden Technischen Universitäten ist skeptisch.
Claus Peymann, die Seher & die Rattenfänger
Der Befund ist ja richtig, der Digitalisierung gehört die Zukunft. Aber eher nicht mit den so österreichisch vertrauten Hebeln der Vergangenheit. An denen sitzt die ÖVP nicht nur im Bund, sondern eben auch in den meisten Ländern. Das Technologieland Oberösterreich hat da einen besonders großen Hebel. Und Sebastian Kurz legt seinen rhetorischen Nebel über das alles. Claus Peymann hat in einem Interview mit der Wiener Zeitung drei Sätze gesagt, die er ohne Weiteres dem ÖVP-Obmann und dessen Politikstil gewidmet haben könnte: Wir verabschieden uns freiwillig von den Idealen der Aufklärung und kehren in ein Zeitalter dünkelhafter Grabenkämpfe zurück. Da gibt es die Propheten und Seher, Mystik, Verschwörungstheorien und Rattenfänger, denen hinterhergelaufen wird. So gesehen ist es eine böse Pointe, dass mit Corona gewissermaßen die Pest ausbricht.
Der smarte Großmeister des Aushebelns
Kurz bleibt auch ein Großmeister des Aushebelns. Im Gespräch mit den westlichen Bundesländerzeitungen hat er sich ernsthaft für mehr Europa bei den Corona-Regeln für Reisen ausgesprochen. Er, der in der härtesten Phase der Pandemie eine Allianz der smarten Anti-Corona-Staaten forciert hat, die von Israel bis nach Neuseeland reichte und von europäischer Solidarität ähnlich weit entfernt war wie der Inselstaat. Am liebsten hätte der Kanzler auch den Urlauber-Reiseverkehr nach Italien noch länger unterbunden, damit alle Urlauber ihr Geld in Österreich lassen. Nur der Bundespräsident hat sich damals für das südliche Nachbarland in die Bresche geworfen.
Kurz kennt auch keine Fehlerkultur. Zu seiner Aussage, dass bald jeder jemanden kennen wird, der an Corona gestorben ist, sagt er: Ohne unsere konsequenten Maßnahmen wäre es wohl so gekommen. Und auch zu seinem Hüftschuss mit den 100.000 Corona-Toten steht der Kanzler. Egal, was das in den Köpfen der Menschen dauerhaft angerichtet hat.
Anschober oder Wenn das Beste Pause macht
Ausgehebelt wird selbstverständlich auch der Koalitionspartner. Die Grünen waren bei seinen Ankündigungen nicht eingebunden, sie müssen jetzt schauen, wie sie nach dem furiosen Spiel des Kanzlers auf den Medienklavieren und am Montag wohl auch auf der Orgel – wieder Anschluss gewinnen. Gesundheitsminister Rudolf Anschober macht am Dienstag eine eigene Erklärung zur Lage der Pandemie – und alle Welt erwartet, dass sich der Corona-Minister mit den schönen Beliebtheitswerten für das Chaos mit den COVID-Verordnungen und -Gesetzesentwürfen entschuldigt. Und für allfällige Zores mit der Ampel ab Freitag gleich im Voraus dazu. Aber keine Sorge: der Gesundheitsminister hat mein Vertrauen, hat Sebastian Kurz schon gesagt. Die Schuld am skandalösen Grenzstau mit fünfzehnstündigen Wartezeiten bei der Einreise nach Österreich hat der Kanzler schon dem Bezirkshauptmann von Villach-Land umgehängt. Alles für das Funktionieren der zwei Welten, auch wenn das Beste Pause macht.
Wer hätte das gedacht? Einzelne Länder unternehmen alles, einen Wechsel auf gelb bei der Ampel zu verhindern. https://t.co/aLZvUHXOrK
— Martin Thür (@MartinThuer) August 30, 2020
Die Angst der Ministerin vor dem Befreiungsschlag
Das gilt natürlich auch umgekehrt. Nach dem Kraftakt, mit dem sie den übermächtigen und umstrittenen Sektionschef Christian Pilnacek aus seiner Position gehoben hat, setzt die grüne Justizministerin Alma Zadic ihn wieder ein: als Chef der Straflegistik-Sektion. Mit Weisungen soll Pilnacek nichts mehr zu tun haben, das übernimmt seine bisherige Stellvertreterin als neue Sektionsleiterin. Beide sind top bewertet worden, daran wird auch niemand zweifeln. Doch der Befreiungsschlag, den Zadic mit der Aufteilung der Sektion und der Entmachtung Pilnaceks gesetzt hat, ist entwertet. Die ÖVP hat darüber getobt, die Ministerin hat eine fachlich abgesicherte Entscheidung aus Koalitionsräson getroffen und kein politisches Zeichen gesetzt. Alles für das Funktionieren der zwei Welten.
Warten auf den Bewohner des Maschinenraums
Aber Achtung: jetzt kommt auch Grünen-Chef Werner Kogler aus dem Urlaub zurück. Man liest, der Vizekanzler wolle aus dem Schatten des Kanzlers heraus- und die Bühne be-treten. Dazu muss er freilich seinen Maschinenraum verlassen. Der Zeitpunkt dafür wäre günstig. Denn Sebastian Kurz muss nach der Welle von Ankündigungen auch einmal liefern. Am Ende des Kronenzeitung-Interviews geht es ums Kinderkriegen, Alma Zadic wird ja Mutter, und der Kanzler sagt, er freue sich und habe ihr am Telefon gratuliert.
Der Frage: Würden Sie sich das auch zutrauen, in der Regierung zu sein und gleichzeitig die Vaterrolle auszuüben? weicht Kurz gekonnt aus. Ich bin überzeugt, dass Alma Zadic das genauso gut meistern wird mit ihrem Partner wie Elisabeth Köstinger, die das auch bewiesen hat. Kein Wort über Gernot Blümel, obwohl der wahlkämpfende Finanzminister vor kurzem Vater geworden ist. Das Cola Zero ist ausgetrunken. Flasche leer.
Ein Gedanke zu „Flasche leer“
Vielen Dank Herr Kappacher für diesen – wie immer tollen – Beitrag, jedes Wort ist mir aus der Seele geschrieben. Was mich allerdings noch fassungsloser macht als der aalglatte Umgang mit der momentanen Situation, die leeren Worthülsen, das Ducken der Grünen, usw., sind die unzähligen Menschen, die es nicht durchschauen.