Blinde Flecken
Nach Hitler, Haider und Waldheim ist in der jüngsten Europa-Ausgabe von Newsweek also Sebastian Kurz auf dem Cover. Wäre der “Mediator”, sagen wir, ein rasender Reporter für den Kansas City Milkman, würde er jetzt schreiben: Das absolut Böse, ein freiheitlicher Autoraser und ein Wehrmachtsoffizier, der nur mitgeritten ist, erregten einst Leser diesseits und jenseits des Atlantik. Deshalb verwundere es, dass Newsweek jetzt mit dem braven Reformpolitiker Kurz aus Meidling werbe. Mit giftiger Feder hat Norbert Mayer vom Feuilleton der Presse die Coverstory treffend hinterfragt. Der ÖVP-Propaganda auf Social Media war der Kontext egal: Die geniale Glosse wurde ebenso geteilt wie der böse Artikel.
Wobei viele die Ironie der Glosse gar nicht verstanden und die Presse in diesem Fall wohl zu Unrecht der Kurz-Freundlichkeit geziehen haben. Das ist dieser blinde Fleck in der Debatte über Schwarz-Blau. Ist man einmal in einer Schublade, dann kommt man schwer wieder heraus. Dem Team Kurz kann man so gesehen keinen Vorwurf machen. Die sind die Schublade. Und sie haben aus der Sicht von Social Media einfach nur eine Geschichte verbreitet, die fährt. Der Titel: Austria Rising. Österreich erhebt sich.
Für Klicks wird auf das Renommée gepfiffen
Das Land gewinne mit Sebastian Kurz auf dem internationalen Parkett immer mehr an Bedeutung, so die Message. Lesen, so das Kalkül, wird die acht Seiten auf Englisch eh niemand. Weil in diesem Fall wäre es schon wieder problematisch, wird der Text der faschistoiden Bildsprache auf dem Cover doch durchaus gerecht. So werden restriktive Maßnahmen gegen Ausländer in einen Darkest-Past -Zusammenhang gestellt und Kurz zugeschrieben. Österreich wird als der Hort der größten Neonazi-Treffen in Europa und als die Wiege von Bewegungen wie den Identitären dargestellt. The rise in far-right extremism has effectively fueled Kurz’s political career. Was für ein Renommée.
Die Annahme, dass an Kurz nichts hängenbleibt
Es wirft gleichzeitig ein exemplarisches Licht auf den größten blinden Fleck der Kurz-ÖVP. Nämlich die Annahme, dass das alles abtropfen, dass davon nichts an der Partei hängenbleiben wird. Nazi-Liederbücher hin, Anweisung zur gefälligen Unterscheidung in kritische und brave Medien her. Oder die Treueschwüre bis hin zu Verbrüderungen mit Politikern vom Schlage eines Viktor Orbán und eines Matteo Salvini. Die werden der ÖVP schon unangenehm, weil die Europa-Wahl ins Haus steht und man als untadelige Europa-Partei dastehen will. Und weil es im Falle Italiens halt schwierig wird, wenn die Best Buddies sich nicht an die Budget-Vorgaben der Union halten wollen, während man selber Musterschüler sein will. Die Kurz-Appelle bekommen so einen Beigeschmack.
Nicht streiten, um nicht am Partner anzustreifen
Auch die US-Zeitschrift The Atlantic hat sich ein Jahr nach dem ÖVP-Wahlerfolg mit dem Phänomen Sebastian Kurz befasst. Weit weniger spekulativ als das Newsweek-Magazine. How One ‘Political Wunderkind’ Is Outmaneuvering the Far Right ist der Titel. Wie ein politisches Wunderkind die extreme Rechte ausspielt. Nicht mit der FPÖ streiten und schweigen, wenn es brenzlig wird. Auf diesen einfachen Nenner hat The Atlantic das Erfolgsrezept von Kurz gebracht, das sich auch darin ausdrücke, dass dessen Regierung heute nicht schlechter dastehe als vor einem Jahr, sondern sogar besser. Somewhat paradoxically, Kurz seems to have figured out how to simultaneously keep the peace with his far-right partners and make it clear that he and his party are completely separate from the more unsavory elements of their rhetoric.
The 32-year-old Austrian chancellor has become an inspiration to conservative parties in Europe. @emilyrs reports: https://t.co/rwu4aMzQGT
— The Atlantic (@TheAtlantic) October 17, 2018
Ewiger Honeymoon, den die FPÖ ausbaden soll
Die FPÖ bekommt alles umgehängt, was schiefgeht, dafür geht der Honeymoon nie zu Ende. Das passt Kurz gut, ist aber auch nur ein blinder Fleck. Denn es passt beileibe nicht allen in der FPÖ, wie ein Interview von Klubobmann Walter Rosenkranz mit der Tiroler Tageszeitung beweist. Rosenkranz hat sich an der Westachse abreagiert, das sind die ÖVP-Landeschefs, die mit den Grünen und – in Salzburg – auch mit den NEOS regieren. Wenn die Landeshauptleute im Westen glauben, es ist besser für ihr Land, auf einem linken Kurs zu segeln, dann ist dies ein Problem, welches die ÖVP intern klären muss. Ich nehme jedenfalls zur Kenntnis, dass es in der ÖVP Leute gibt, die sagen: Mit der FPÖ wollen wir nicht. Sagt Walter Rosenkranz, der auch den ÖVP-Fraktionsführer im BVT-Untersuchungsausschuss, Werner Amon, in Frage stellt.
Plötzlich Feindbilder im Westen & im Ausschuss
Jenen Werner Amon, der dem – laut offizieller FPÖ-Lesart – besten Innenminister aller Zeiten, Herbert Kickl, im Zuge der Debatte über einen Misstrauensantrag gegen Kickl die Rute ins Fenster gestellt hat, indem er Bert Brecht zitierte: Vertrauen erschöpft sich dadurch, dass man es in Anspruch nimmt. Jetzt ist Amon ein Feindbild der Blauen, und die ÖVP-Verantwortlichen tun das, worin sie unter Kurz sehr geübt sind: Sie versuchen das wegzureden, was offensichtlich ist. Is this strategy sustainable in the long run? It’s difficult to tell. Schreibt The Atlantic. Wir wissen es auch nicht. Ob die Kurz-ÖVP mit dem ständigen Wegreden durchkommen wird. Denn schlauer zu sein als der andere, heißt nicht automatisch, dass man auch immer das letzte Wort hat.
Der Kanzler, die Krone und der jüdische Friedhof
Und schlauer ist Sebastian Kurz eindeutig, wenn es etwa um das Darkest Past geht, das die Amerikaner so gern beschwören. Um Österreichs dunkle Vergangenheit, die da und dort noch völlig unbewältigt in unsere Gegenwart hereinragt. Zum Beispiel der jüdische Friedhof in Wien-Währing, um dessen Erhaltung und Sanierung sich seit Jahren viele Menschen freilich mit wenig Erfolg bemüht hatten. Jetzt hat die Kronenzeitung – deren Herausgeber sich gemeinsam mit den Spitzen der Israelitischen Kultusgemeinde sogar auf dem Friedhof hat ablichten lassen – den bedauerlichen Zustand desselben zum Thema gemacht. Den Kanzler hat das Blatt als Unterstützer gewonnen, und Kurz will auch Geld dafür locker machen – aus dem Sonderbudget, das als Spielgeld kritisiert worden ist. Schöne Bilder und beste Nachrede in der Krone inklusive.
Die unfassbarste Passage des Rosenkranz-Interviews in der @TTNachrichten, geprägt von nahezu höhnischer Ignoranz (sinngemäß: "Kultusgemeinde soll uns mitteilen, wieviele Tage vor und nach Gedenktagen eine FPÖ-Veranstaltung eine Provokation darstellt"). pic.twitter.com/x3GyxUWe6f
— dieter chmelar (@chmelar_dieter) October 22, 2018
Die Geschichtslücken des FPÖ-Klubobmanns
Mit Walter Rosenkranz hingegen redet die Kultusgemeinde nicht einmal, wie der FPÖ-Klubchef im TT-Interview verraten hat. Rosenkranz wurde zur geplanten Ehrung für die FPÖ-nahe Zeitschrift Zur Zeit gefragt. Die hatte jüngst einen Artikel mit faschistoiden Phantasien über eine neue Ordnung veröffentlicht, der selbst Herausgeber Andreas Mölzer zu weit ging. Daraufhin wurde die Ehrung im Parlament abgesagt. Rosenkranz lieferte im Interview eine völlig neue Begründung dafür: Heuer wurde uns von der Parlamentsdirektion der 8. November zugewiesen. An diesem Tag wird aber, was wir nicht gewusst haben, an die “Reichspogromnacht” erinnert. Dies wurde uns dann im Nachhinein als bewusste Provokation ausgelegt. Das wollen wir künftig vermeiden.
“Wir haben kein Interesse an einer Provokation”
Der FPÖ war nicht bewusst, wann der November-Pogrome gedacht wird, die den Beginn der systematischen Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nazis markierten. Deshalb will Rosenkranz von der Israelitischen Kultusgemeinde wissen, welche Tage für die jüdische Gemeinschaft in Österreich besonders schicksalhaft und von großer Bedeutung sind. Und ich will wissen, wie viele Tage davor und danach hier noch zu berücksichtigen sind. Wir haben nämlich kein Interesse an irgendeiner Provokation. Bemerkenswerte Aussagen des Klubchefs einer Regierungspartei. Und bemerkenswert vor allem die blinden Flecken, die sich da offenbaren.
Ich gratuliere Pamela Rendi-Wagner zur designierten Vorsitzenden der @SPOE_at !
Sie ist nicht nur die erste, sondern auch die absolut beste Wahl für den Vorsitz unserer Bewegung.#rendiwagner #spö pic.twitter.com/58OtDLOOQH— Peter Kaiser (@PeterKaiserSP) September 22, 2018
Nepotismus-Schatten über dem roten Neustart
Das gilt im Übrigen auch für Teile der Sozialdemokratie, namentlich die Kärntner Landesorganisation. Die hat Luca Kaiser, den Sohn von Landeshauptmann Peter Kaiser, als Spitzenkandidaten für die Europawahl aufgestellt und auf einen wählbaren Listenplatz gehofft, den es nicht gegeben hat. Das hing mit dem Reißverschluss-System zusammen, aber auch mit einem dummen Tweet von Kaiser junior, der zeitgerecht ausgegraben und am Boulevard breitgetreten worden ist. Vor allem aber damit, dass hier der Sohn des amtierenden SPÖ-Landesvorsitzenden und Landeshauptmanns in der Partei Karriere machen wollte. Eine denkbar schlechte Optik.
Die Parteispitze ist nicht mit sehr viel Fingerspitzengefühl vorgegangen, aber sie hat das Richtige getan. Nepotismus geht gar nicht, auch wenn er mit dem Mäntelchen innerparteilicher Demokratie beschönigt werden soll. Ein blinder Fleck, der den sonst so besonnenen Peter Kaiser dazu veranlasst hat, öffentlich aufzudrehen und die dank dem Wirken des Wiener SPÖ-Vorsitzenden Bürgermeister Michael Ludwig ohnehin schon angekratzte neue Bundesparteichefin noch einmal richtig vorzuführen. Dass er sich damit auch gleich selber vorgeführt hat, macht die Sache für die SPÖ nicht besser.
Ein Gedanke zu „Blinde Flecken“
Ganz fair ist die Rosenkranz-Kritik aber nicht; schließlich war die Reichs-Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Dass der Gedenktag dazu der 8. November ist, muss also nicht unbedingt mit Lücken im Geschichtswissen zu tun haben…